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Henry Rollins: Solipsist
von rls anno 2015

Henry Rollins: Solipsist

Henry Rollins erlangte als Frontmann der legendären US-Punkband Black Flag Berühmtheit, und im Gegensatz zu manch anderem Menschen ähnlichen Status' bedeutete die Auflösung desjenigen Künstlerkollektivs, das ihm zu diesem Status verholfen hatte, keinen Karriereknick - Rollins' Soloalben bzw. diejenigen mit der nach ihm benannten Band, also quasi gleichfalls Soloalben, erlangten ebenfalls eine große Popularität und ihr zentraler Schöpfer gleich mit. Das nutzte der gewiefte Taktiker aus, um auch in anderen Bereichen Fuß zu fassen, und einer davon ist die Welt des geschriebenen Wortes. Als Texter seiner Bands hatte Rollins ja schon ein gewisses Grundtalent für diese Welt offenbart, und das versuchte er mit Gedichtbänden und Lesungen weiter auszubauen, wobei auch von letztgenannten eine ganze Menge auf CD erschien, allerdings naturgemäß aufgrund der Sprachbarriere in nichtenglischsprachigen Ländern eher wenig Beachtung fand. Zwischen 1993 und 1996 schrieb Rollins außerdem auch Prosa, nämlich in Gestalt des im neuen Jahrtausend auch in deutscher Übersetzung veröffentlichten Buches "Solipsist".
Was man hinter diesem Titel zu erwarten hat, verrät auch dem nicht philosophisch gebildeten Leser das Backcover, indem es das titelgebende Wort definiert, und zwar auf zwei möglichen Bedeutungsebenen: "1. Die Lehre, dass nichts als das eigene Bewusstsein wirklich ist. 2. Theorie, dass einzig das eigene Selbst wirklich erkannt und verändert werden kann." In gewisser Weise baut Ebene 2 auf Ebene 1 auf, aber schon Ebene 1 stellt eine fundamentale Erkenntnis der theoretischen Philosophie dar, die den Menschen, der sich dessen bewußt wird, entweder läutert oder in den Wahnsinn treibt. Bei Rollins hat man eher letztgenannten Verdacht - laut Rücktiteltext beschreibt das Wort "die Gefühle, die die Stadt [New York] bei mir auslöste". Die Theorie, die Großstadt würde den Menschen nervös und reizbar machen, ist ja so alt wie das Entstehen der ersten Großstädte selbst, und all das, was im Buch beschrieben ist (oder zumindest das meiste davon), könnte in einer ruhigen ländlichen Umgebung, wo die Protagonisten förmlich Wurzeln geschlagen haben, nie passieren.
Die Frage ist nun: Was passiert im Buch eigentlich? Die Antwort lautet: Alles und nichts. Es handelt sich um eine mehr oder weniger zusammenhanglose Schilderung psychotischer Geschehnisse ohne jegliche Regelung oder Reihenfolge, vermischt mit diversen blitzartig aufscheinenden interessanten philosophischen Gedanken, die ebenso blitzartig wieder verschwunden sind. Würde man eine musikalische Entsprechung des Buches suchen, es fiele einem der sogenannte Mathcore in seiner extremeren Ausprägung ein. Auch der steckt voller guter songwriterischer Ideen, läßt aber keine derselben eine entsprechende Entwicklung nehmen, raubt ihr statt dessen die Luft zum Atmen und walzt sie quasi im Handumdrehen mit der nächsten Idee platt, so daß sich unterm Strich gar nichts entfalten kann. Das hinterläßt, wenn man "klassisches" Songwriting gewöhnt ist, ein ungutes Gefühl, und ähnlich verhält es sich auch mit "Solipsist" - man wünscht sich an vielen Stellen, mancher intelligente Gedanke wäre vertieft worden, und aus manchen Gedanken hätte man komplette Bücher evozieren können. Aber das ist Rollins' Sache nicht - er wirbelt einem 174 Seiten lang seine Ideenkonstrukte vor die Augen und erwartet vom Leser wahrscheinlich noch nicht einmal, daß der ihm folgen kann oder gar will. Einen roten Faden gibt es folgerichtig natürlich auch nicht. Wen all das nicht stört oder wer sich vorstellen kann, das zu mögen (oder wer auch Rollins' Spoken-Word-CDs mag), für den könnte "Solipsist" eine erhellende Lektüre sein. Interessantes Detail am Rande: Verleger Stefan Ehlert, der auch die Übersetzung aus dem Amerikanischen besorgt hat (und Rollins' Sprachurgewalt gekonnt in deutsche Worte faßte), wendet eine äußerst eigentümliche Kommasetzung an, indem er zahlreiche grammatikalisch eigentlich nötige Kommata wegläßt, aber mit der Tatsache, daß er keine an Stellen setzt, wo keine hingehören, unter Beweis stellt, daß er der deutschen Grammatik problemlos mächtig ist, so daß das also offenbar ein mit Absicht eingesetztes Stilmittel ist, vielleicht um den Fluß des Buches noch unerbittlicher zu machen. Mathcore zwischen Buchdeckeln - wer das zu mögen glaubt, greife zu, beschwere sich dann hinterher aber nicht, es sei zu anstrengend.

Henry Rollins: Solipsist. Bremen: MirandA-Verlag 2003. Festeinband, 192 Seiten, 15,80 Euro, ISBN 978-3-934790-05-6, www.mirandA-verlag.de
 






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