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Helmut Rösing, Albrecht Schneider, Martin Pfleiderer (Hg.): Musikwissenschaft und populäre Musik
von *tf anno 2003

Helmut Rösing, Albrecht Schneider, Martin Pfleiderer (Hg.): Musikwissenschaft und populäre Musik

Das nun mittlerweile neunzehnte Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, welches seit Ausgabe Nummer vierzehn bei Peter Lang erscheint (Ausgaben 1-13 bei Laaber) ist untertitelt mit "Versuch einer Bestandsaufnahme". Um es gleich vorwegzunehmen: beim Versuch bleibt es nicht. Auch wenn sicher nicht jedes Bemühen um populäre Musik innerhalb musikwissenschaftlicher Diskurse Aufnahme in das 325-seitige Buch gefunden hat, so wird der Überblick darüber schon im ersten, von Helmut Rösing himself verfassten Beitrag über Popularmusikforschung in Deutschland detailgenau gegeben. Von den Anfängen der Popularmusikforschung - die je nach Genre zeitlich variieren - bis in die neunziger Jahre zeichnet Rösing nicht nur einzelne Theorieansätze nach, er stellt sie auch miteinander in Beziehungen und vernachlässigt den philosophiegeschichtlichen Hintergrund kontroverser Debatten nicht. An dieser Stelle sei auf die gute Strukturierung dieser Publikation verwiesen. Bringt die erste Rubrik Aufsätze zum Thema "Forschungsgeschichte: Theorien, Perspektiven" schließt sich die zweite unter der Überschrift "Analysen: Strukturen, Inhalte, Bedeutungen" an, gefolgt vom etwas Spezielleren: "Hamburg: Szenen und Ressourcen" und schlussendlich durch "Bewertungsfragen" reflektiert. Und erinnert auch die Betitelung der ersten beiden Rubriken "... geschichte" und "Analysen" sehr an das althergebrachte musikwissenschaftliche Untersuchungsbesteck, so ist in den Texten wenig bis nichts davon zu spüren. Gleichwohl werden musikwissenschaftliche Theoreme, Methoden und Strategien auf ihre Bedeutung für wissenschaftliches Arbeiten in der Gegenwart befragt. Sie müssen sich den neuen, vor allem durch das Auftauchen massenmedialer Phänomene und den mit ihnen verbunden neuen (Selbst-)betrachtungsweisen von Musik auseinandersetzen, zeigen, ob ihr Instrumentarium noch zeitgemäß ist und ob es je zeitgemäß war. Letzteres wird vor allem dann angefragt, wenn es um das Musikverständnis geht, welches die Musikwissenschaft vom Innersten her bewegt. Zurück zum Rösing-Artikel. Dieser stellt eine Fundgrube für all jene dar, die sich dem Befragen populärer Musik widmen. Durchweg wird ein Nebeneinander der Denkmodelle, ihr historischer Background und ihre wichtigsten Vertreter aufgezeigt, welches es auch dem interessierten Neustöberer leicht macht, sich von gegenwärtigem musik-, kunst- und kulturwissenschaftlichen ein Bild zu machen.
Der zweite Artikel entstammt der Feder Pfleiderers und widmet sich der älteren und jüngeren Geschichte der Jazzforschung. Durch die Begrenzung aufs Metier wird auch der eben geöffnete Blickwinkel verengt. Das hat zum einen den Vorteil, dass man "näher am Objekt" ist, bringt aber auch den Nachteil fehlenden Verallgemeinerungspotentials. Pfleiderer geht es vorrangig um spezielle Aussagen für spezielle musikalische Formen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Interessanter schon die ebenfalls vorhandenen ethnomusikologischen Ansätze über Improvisation und den Dialogcharakter. Schade, dass es auch hier nicht um eine Betrachtung über den Jazzhorizont hinaus geht.
Folgend der Chronologie des Buches gelangen wir zum zweiten Highlight. Peter Wickes Artikel "Popmusik in der Theorie. Aspekte einer problematischen Beziehung" legt den Finger genau dahin, wo's brennt. Hier wird die grundsätzliche Frage erörtert, ob und wie Popmusik in Theoriegebäude fassbar ist. Rede und Gegenrede, die sowohl im musikalischen und gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskurs auffindbar sind, werden kritisch auf ihre Aussagekraft und Plausibilität hin überprüft. Angereichert wird das Ganze mit Wickes eigenen Denkergebnissen, die sich - wie zu erwarten - nicht hinter Fremdgedachtem verstecken müssen. Wickes Artikel hinterlässt - ebenfalls erwartungsgemäß - mehr Fragen als Antworten. Das wird durch das Aufstellen einer Vielzahl von Hinweisschildern und Richtungsangaben mehr als kompensiert.
Von der Theorie zur Empirie geht's im folgenden Beitrag von Riggenbach, überschrieben mit "Empirie-Domino". Hier wird der Eiertanz um die Geltungsbereiche musikwissenschaftlich-empirischer Ansätze in gnadenlos hellem Licht und auf dem Hintergrund des Konstruktivismusstreites beleuchtet. Auf der Definition dessen, was als empirisch zu gelten hat, wird akribisch geklärt, welche Studien der Popularmusikforschung als empirisch brauchbar anzusehen sind und welcher Methoden sie sich bedienen. Ein überaus erfrischender Schreibstil empfiehlt neben der Brisanz des Themas diesen Artikel gewissenhafter Lektüre.
Um dem interessierten Leser aufzuzeigen, was ihn oder sie in den nächsten Artikeln erwartet, hier ein Überblick. Helms schreibt über "Musikwissenschaftliche Analyse populärer Musik?" (man beachte das Fragezeichen), Schneider widmet sich der Klanganalyse, Jauk titelt "Pop: Mediatisierung und der dissidente Körper", Matthias präsentiert eine filmmusikalische Analyse des Streifens "Braveheart", Sweers zeigt einen ethnomusikologischen Fusionshorizont auf, Binas stellt Verbindungen zwischen lokalen und globalen Musikpraktiken her, Dollase u.a. beschreiben musikalische Präferenzen von Schülern und schon sind wir im mit "Hamburg. Szenen und Ressourcen" überschriebenen Spezialteil, den ich an dieser Stelle ausklammern möchte, obwohl auch er eine Reihe interessanter Artikel, u.a. von Behrens enthält.
Die Conclusio des Buches teilen sich Schlumbohm mit der Frage, was Musik im digitalen Zeitalter (noch) wert ist, Jacob mit einer "Archäologie des Hipnessverfalls" und Testcard-Autor Büsser mit einem Artikel über avantgardistische Aspekte der Popkultur. Auf Jacobs Beitrag muss noch einmal gesondert eingegangen werden. Wer ihn kennt, weiß um seine berühmt-berüchtigte spitze Feder gepaart mit scharfsinniger Analyse von nicht-alltäglichen Beobachtungen. Diese scheinbaren Ausnahmesituationen entpuppen sich durch Jacobs Interpretationen stets als Teil der Normalität. Nichtkonformität und Konformität fallen auf wundersame Weise in eins. Geprägt ist Jacobs Perspektive dabei durch marxistische Grundannahmen über die soziale Ungleichheit als sozialem Ausgangspunkt alles Seins. Die durchaus modernere und zum großen Teil entideologisierte Variante dieser Gesellschaftstheorie, vertreten durch ihren Hauptagenten Bourdieu, ist das theoretische Rüstzeug, aus dessen Fundus Jacobs Überlegungen gespeist werden. Da fallen kulturtheoretische, ökonomische, kunstwissenschaftliche und philosophische Ansätze ineinander, ergänzt durch handlungskonzeptionelle und psychologische Blickwinkel. Was sich auf den ersten Blick als recht abstruse Mischung postmoderner Beliebigkeit dartut, wird von Jacob nicht nur äußerst lesenswert sondern auch differenziert und logisch verknüpft dargeboten. Hier liegen meines Erachtens Potentiale, die zu einem lohnenswerten Nachdenken über ein Miteinander von Musikwissenschaft, Cultural Studies und Pop zwingend führen.
Und so schließt sich der Kreis des Buches vom Überblick zum Ausblick, das seinen zugegeben nicht besonders studentenfreundlichen Preis locker wert ist. Mein Tipp: da sich über die Thesen der Artikel nicht nur allein sinnieren sondern vor allem im Anschluss daran auch trefflich debattieren lässt, sind Lese- und Diskutiergemeinschaften ein empfehlenswerter Weg, sich nicht nur den Preis, sondern auch die intellektuellen Früchte des Buches zu teilen.

Helmut Rösing, Albrecht Schneider, Martin Pfleiderer (Hg.): Musikwissenschaft und populäre Musik. Versuch einer Bestandsaufnahme. Peter Lang Verlag 2002, 56.- Euro. ISSN 0342-8303, ISBN 3-631-50099-8. www.peterlang.de



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