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Babak Rafati: Ich pfeife auf den Tod!
von san anno 2016

Babak Rafati: Ich pfeife auf den Tod!

"Ich pfeife auf den Tod!" ist die schonungslose Abrechnung mit den Tabuthemen Machtverfehlung, Mobbing, Leistungs- und Mediendruck im Profifußball von einem beeindruckenden Protagonisten, dessen einst so perfektes Leben tragisch ins Abseits geriet. Babak Rafati beschreibt in seinem Buch eindrucksvoll seinen Aufstieg und Fall als Schiedsrichter in der Deutschen liebster Sportart. Rafati, Jahrgang 1970, hat seine Wurzeln im Iran und wuchs sowohl dort als später auch in Deutschland auf. Mit viel Engagement und Disziplin erarbeitete er sich eine angesehene Laufbahn als Banker in seiner Heimatstadt Hannover. Aber seine wahre Leidenschaft war der Fußball. Rafati legte seit 1997 als DFB-Schiedsrichter und von 2008 bis 2011 als FIFA-Schiedsrichter eine bemerkenswerte Karriere neben seinem eigentlichen Beruf hin. Wenn man Rafatis Ausführungen folgt, bekommt man ein ganz anderes Bewusstsein für das Leistungserfordernis eines Schiedsrichters, der neben seinem normalen Fulltime-Job ein Trainings-, Weiterbildungs- und Spielpensum absolviert, als ob der Tag 48 Stunden hätte. Da mutet es doch schon verwunderlich an, dass der körperliche Leistungsverfall im Falle Rafatis nicht schon früher eingetreten ist: Das Geheimnis seines Erfolgs war die Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit eines Menschen für sein Tun. In diesem Kontext ist es erstaunlich, welches Leistungsvermögen man unter positivem Stress vollbringen kann. Was aber, wenn Mobbing, eigenes Perfektions- und Leistungsstreben, Leistungs- und medialer Druck dieses Leben ins Negative verkehren?
Aus Sicht des Fußballfans bedarf die Leistung der Schiedsrichter mehr Honorierung. Gerade in Zeiten der EM 2016 hat man nach dem Lesen dieses Buches einen anderen Blickwinkel auf den Job der Unparteiischen. Sind sie doch verantwortlich für die faire Leitung eines Spieles und das Im-Zaum-Halten viel zu hoch bezahlter Profispieler, die in manchen Fällen weniger durch fußballerisches als vielmehr durch schauspielerisches Können auf dem Platz herausfordern. Entgegen einem Sportkommentator hat ein Schiedsrichter keine die Spielsituation wiederholende Kameranahaufnahme in Zeitlupe, um eine Foulsituation insbesondere im 16er immer 100 Prozent richtig beurteilen zu können. Er muss im Augenblick aus seiner Perspektive entscheiden. So ist er bei einer Fehlentscheidung nicht nur dem Spott der Kommentatoren und dem Aufregen der Spieler sondern insbesondere auch dem Pfeifkonzert mehrerer zehntausend Fans ausgesetzt und nicht zuletzt der Bewertung durch die Schiedsrichterkommission, die darüber entscheidet, wo die Reise auf der Karriereleiter nach einem verpfiffenen Spiel hingehen kann. Von den Beiträgen in den Sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Der Profifußball hat mittlerweile Dimensionen erreicht, die nachdenklich werden lassen, nicht zuletzt auch durch die aktuellen Skandale bei FIFA und DFB oder horrende Ablösesummen für Spieler. An dieser Stelle ist der Fan gefragt, die Akteure nicht verblendet auf einen Sockel zu stellen, wodurch Straftaten wie Steuerhinterziehung oder Fahren ohne Führerschein einfach legitimiert werden. Der Sport und die Leidenschaft dafür müssen einfach wieder mehr in den Fokus rücken, ohne dabei in dieser Geldmaschinerie die Protagonisten auszubrennen oder gar ein tragisches Ende nehmen zu lassen.
Was hat man nach dem verzweifelten Suizid des Torhüters Robert Enke in 2009 alles besser machen wollen - am Beispiel von Rafati zwei Jahre später wird deutlich, dass diese Absichten nicht weit gekommen sind. Er beschreibt eindrucksvoll, wie sich seine Vorzeige-Karriere nach einem erfolgreichen Machtkampf zweifelhafter Schiedsrichterbosse und damit verbundenem mangelnden Rückhalt und Mobbing ins Gegenteil verkehrte und der einst beliebte Schiri plötzlich wichtige Spiele verpfiff, immer mehr an Selbstzweifeln, Versagensängsten und dem Infragestellen seiner Person durch sich selbst und vor allem durch die Öffentlichkeit litt, was ihn schließlich in eine Erschöpfungsdepression führte. Leider ist Rafati in dieser persönlichen Einbahnstraße bis zur Endstation gefahren, ohne zuzulassen, dass er hätte aussteigen können. So endete diese Fahrt in einer Verzweiflungstat, in der er sein Leben ein Ende setzen wollte und das wenige Stunden vor Anpfiff eines Bundesligaspiels unter seiner Leitung, was entsprechend für mediale Aufmerksamkeit sorgte. Es treibt einem einen Schauer über den Rücken, wie Rafati rückblickend sein Dahinsiechen beschreibt, insbesondere in dem Moment, als er aus seinem Körper heraustritt und in der dritten Person sein fast realisiertes Sterben schildert. Wer selbst schon einmal vor seiner "roten Karte des Lebens" stand, sieht seinen eigenen Lebenszug noch einmal und die Parallelen darin vorbeifahren und ist gleichermaßen wie Rafati um die Erkenntnis froh, dass man nach einer vermeintlichen Endstation auf einmal doch in eine andere Richtung fahren kann.
Dazu braucht es "nur" eine neue Sicht auf das eigene Leben, welche Fehler man bisher gemacht hat, Mut zum Wiederaufstehen, ein neues Selbstwertgefühl, Selbstbestimmtheit und geliebte Menschen, die einen so akzeptieren, wie man ist und insbesondere dann unterstützen, wenn es auch einmal zu einem Rückschlag auf dem neuen Erkenntnispfad kommt. Nicht die anderen sind schuld, sondern man selbst, wenn man zulässt, dass die äußeren Rahmenbedingungen einen derart vereinnahmen. All das ist harte Arbeit an sich selbst, aber sie wird Schritt für Schritt belohnt, wie am Beispiel Rafatis. So lebt er nach seinem neuen Antrieb: "Das Leben gibt denen am meisten, die das Meiste aus dem machen, was ihnen das Leben gibt". Rafati hat sich getraut, mit seinem Scheitern und seiner Selbstreflektion in dieser Form an die Öffentlichkeit zu gehen, das System Fußball und seine Akteure scharf zu kritisieren, sich einer weiteren medialen Präsenz auszusetzen, um so den Weg für ein Umdenken zu ebnen. Der Erfolg dieses Weges gibt ihm Recht.
Heute ist Rafati gefragter Keynote-Speaker zu Themen wie Burnout-Prävention, Mobbing, Stressmanagement und betreut als Mentalcoach u.a. namhafte Sportler. Rafati transportiert seine Erlebnisse insbesondere auch in die Wirtschaft, um aufzuzeigen, dass nicht nur der Sport sondern die Arbeitswelt allgemein eines dringenden Wandels bedarf. Psychosomatische Krankheitsbilder haben in unserer Leistungsgesellschaft dramatisch zugenommen, bedingen lange Ausfallszeiten von Arbeitnehmern und kosten das Gesundheitswesen und die Arbeitgeber Millionen Euro. Wenn manche Führungskräfte schon aus ihrer mangelnden sozialen Kompetenz und Antiquiertheit heraus nicht in der Lage sind, trotz Leistungsdruck für ein positives und wertschätzendes Betriebsklima zu sorgen, dann sollten sie es wenigstens aus betriebswirtschaftlichem Verständnis heraus tun. Aber mal ehrlich: Zufriedene und leistungsbereite Mitarbeiter sind doch neben fachlichem Knowhow das wichtigste Gut in einem Unternehmen. Mitarbeiter mit Erschöpfungsdepression sind keine Verlierer im System, sie sind diejenigen, die ihren Job noch mit Leidenschaft und anspruchsvoller Ergebnisorientierung ausführen möchten, wenn bereits über die Hälfte der Belegschaft nur noch Dienst nach Vorschrift macht. Diese Mitarbeiter sind es wert, geschätzt zu werden. Denn drehen sich die kleinen Zahnrädchen nicht mehr, bleiben auch unweigerlich die großen stehen.

Babak Rafati: Ich pfeife auf den Tod! München: Wilhelm Goldmann Verlag 2014. Taschenbuchausgabe. ISBN 978-3-442-15806-5. 302 Seiten. 9,99 Euro. http://babak-rafati.de/, https://de.wikipedia.org/wiki/Babak_Rafati
 






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