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Günter Philipp: Klavierspiel und Improvisation
von *tf anno 2003

Günter Philipp: Klavierspiel und Improvisation

Das mit reichlich 800 Seiten und ca. 5 kg Gewicht schon äußerlich sehr umfangreiche Buch aus dem Kamprad-Verlag, welches in einer früheren Version bereits zu DDR-Zeiten veröffentlicht wurde, untertitelt sich als "Lehr- und Bekenntnisbuch über musikalische, technische und psychologische Grundlagen".
Das Vorwort gibt gleichsam die Richtung und den Adressatenkreis vor. Als Letztere sind Interpreten, Instrumentalpädagogen, Musikstudierende und Musikinteressierte genannt, also im weitesten Sinne auch CrossOver-Nutzer. Wer das Buch also zur Hand nimmt, findet neben zentralen Fragen des Klavierspiels ein breites Spektrum an Themen, für die man sonst mühsam ein ganzes Buchlager zusammentragen muss. Schwerpunkte sind unter anderem Beiträge über Kreativität und ihre Analyse und zentrale Fragen des Instrumentalunterrichts inklusive dem Blick auf die Lehrer-Schüler-Beziehung. Bereits im Vorwort finden wir erste Bekenntnisse des Autors. So erteilt er überholten, unschöpferischen Arbeitsmethoden im Unterricht eine klare Absage zugunsten einer imitativen Lehrpraxis und fordert vehement die Einbeziehung improvisatorischer Inhalte in diesem Bereich. Die Forderung nach ganzheitlichem Musizieren unter Verknüpfung von Improvisation und Technik mit psychologischen, informationsästhetischen und bildkünstlerischen Erkenntnissen ist für Philipp Programm. Schauen wir uns das Werk genauer an:
Zunächst definiert Philipp die Grundbegriffe, auf die sich das Weitere stützt. Was ist Kunst? Was ist Musik? Was ist Interpretation? Philipp versucht die Definitionen so präzise wie weit zu halten. Das gibt dem Leser auf der einen Seite die nötige Klarheit, lässt jedoch ebensoviel Raum für Anknüpfungen aus Bereichen wie Psychologie, Ästhetik, Kommunikation, gar Philosophie. Einige dieser Anknüpfungen legt Philipp selbst. So beleuchtet er die Informationstheorie und Informationsästhetik detailgenau wie aufschlussreich. Auch in den Betrachtungen zur Interpretation gibt es zahlreiche vertikale (Akustik, Technik, Geist und Inspiration, Freiheit und Eindeutigkeit) und horizontale (alte und klassische Musik, Zeitgenössisches und Jazz) Querverweise.
Die folgenden Kapitel widmen sich Ausführungen zu instrumentalpädagogischen Aspekten. Psychologische Grundlagen und situativer Ansatz sind hier ebenso zu finden wie "pianistische Grundtypen", Schülerpersönlichkeiten und Grundbegriffe des Einzel- und Elementarunterrichts. Der Leser findet weiterhin Aussagen zur Hygiene des Musikers sowie die Psychologie und Methodik des Lernens und Übens, bevor der Fokus auf das Pedalspiel gerichtet wird.
Spätestens an dieser Stelle wird die Herangehensweise von Philipp deutlich. Alles hat mit Jedem zu tun, Alles kann von verschiedenen Standpunkten betrachtet und auf Anderes zurückgeführt werden. Dieser Ansatz führt gelegentlich dazu, dass aus unterschiedlichen Perspektiven Bekanntes in neuem Licht wieder auftaucht. Dadurch werden auf wirksame und nachhaltige Weise Zusammenhänge transparent gemacht.
Das nächste Kapitel (Kammermusik und Begleitung) ist recht speziell und für den lediglich Musikinteressierten wohl auch nicht gedacht. Danach geht es zum - wie ich finde - Hauptteil des Buches. Dieser widmet sich den verschiedenen Aspekten der Improvisation. Nach einem sehr ausführlichen historischen Abriss landet Philipp folgerichtig in der Gegenwart und spannt dort den Bogen bis zum Jazz. Gerade die Ausführungen zu diesem Punkt unterscheiden sich wohltuend von anderen Publikationen, indem Philipp den Jazz weder als geschichtslos noch durch historische Ursprünge determiniert sondern im Zusammenklang sieht. Weitere Abschnitte beleuchten Ordnungsprinzipien zeitgenössischer Musik und die damit verbundene Frage nach der Funktion und der kommunikativen Struktur des Hörers sowie den Werkbegriff und damit verbundenen Konsequenzen für Komposition und Improvisation - auch im Hinblick auf den Einfluss der Technik. Soviel kann verraten werden: auch hier gibt es kein So-oder-so sondern folgerichtig Sowohl-als-auch. Es macht nicht nur klüger sondern auch Vergnügen, den Gedankengängen und Konstruktionen des Autors zu folgen. Dies gilt auch für die Frage "Was ist Improvisation?" und das Aufzeigen ihrer Vorzüge und Nachteile. Nach Philipp überwiegen beim Gegebensein der dafür notwendigen Voraussetzungen eindeutig die Vorzüge, weswegen sie auch einen festen Platz im Üben haben sollte. Dies und anderes wird abschließend in Thesen zum Improvisationsunterricht zusammengefasst.
Kurzgehaltene Kapitel zur Akustik inklusive Ausführungen über Mikrofontechnik und Besonderheiten von Studios, Elektroakustischer Übertragungstechnik und ein Überblick über Aufbau und Eigenschaften des Klaviers beenden das Buch, welches auch über reichlich Notenbeispiele, Tabellen und Abbildungen verfügt, bevor das Nachwort noch einmal Klartext redet. Hier prangert Philipp die gegenwärtigen Zustände an deutschen Musikhochschulen inklusive Mobbing, Opportunismus und Machtmissbrauch an und ruft zu Veränderungen auf, die durch jeden Einzelnen, Lehrenden und Lernenden auf der Grundlage von Zivilcourage zu leisten sind. Kämpferischer Appell eines Insiders, dem die Erziehung zu Musikalität, Bildung und Humanismus an den Konservatorien unseres Landes trotz zwischenzeitlich erfolgter Emeritierung Herzenssache geblieben ist.

Günter Philipp: Klavierspiel und Improvisation, Altenburg: Kamprad 2003, ISBN 3-930550-23-7, Preis 44,90 Euro. Weitere Infos und Bestellen: www.querstand.de
 



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