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9/11-Special
von ta anno 2011

Zum zehnten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 ist einiges an Sachliteratur zu 9/11, dem Davor, dem Danach und dem Tag selbst erschienen, die an dieser Stelle - in unvollständiger Auswahl natürlich - vorgestellt werden soll.

Anthony Summers/Robbyn Swan: The Eleventh Day
Eine wohlfundierte Totale auf die Anschläge liefern Anthony Summers und Robbyn Swan in ihrer 600-Seiten-Schwarte "The Eleventh Day". Fußnotenapparat und Bibliographie des Buches sind absolut beeindruckend in Quantität und Qualität, die Autoren haben sich durch das Nationalarchiv der Vereinigten Staaten gewühlt, in dem seit 2009 die Unterlagen der offiziellen 9/11-Untersuchungskommission gehortet werden, Primärdaten gewälzt und Protagonisten en masse interviewt. Das Buch von Summers/Swan nimmt drei Stoßrichtungen ein: Erstens, die Autoren etablieren einen Korpus an Kernbehauptungen zu 9/11, der sich im Wesentlichen deckt mit den Ergebnissen der offiziellen Untersuchungen durch den Senat, die 9/11 Commission und das FBI: "The story of September 11, 2001 - that of the victims and of the terrorists - is told. The identify of the perpetrators is not in doubt. As told in these pages, the essential elements are as described in the conclusions of the two official inquiries." (S. 365) Zweitens, die Autoren erteilen alternativen Deutungen des 11. Septembers, die diesen Korpus an Kernbehauptungen anzweifeln, eine Abfuhr: "Wonder one may, but the authors have seen not a jot of evidence that anything like a false flag scenario was used on 9/11. Nor, after more than four years' research, have we encountered a shred of real information indicating that the Bush administration was complicit in 9/11. Subjected to any serious probing, the suspicions raised by Professor Griffin and his fellow 'truthers' simply vanish on the wind." (S. 116) Drittens, die Autoren verfolgen einige lose Enden der Ermittlungen unter der Überschrift "Unanswered Questions" (S. 363ff.) weiter. In allen drei Bereichen liefern Summers/Swan nicht nur solide, sondern hervorragende und sehr fundierte Arbeit ab, deren Qualität und Tiefe an zwei Beispielen verdeutlicht werden soll. 1. Durch Freigabeforderungen über den Freedom of Information Act sind die Autoren an ein bisher klassifiziertes Transkript des sog. Air Threat Conference Call gekommen, in dem höchste damalige Befehlshaber der USA, darunter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney, kurz nachdem sich das letzte Flugzeug um 10:03 Uhr bei Shanksville in einen Feldboden bohrte, ihren Informationsstand abgleichen. 2. Die kontroverse Behauptung, Osama Bin Laden sei im Juli 2001 in einem pakistanischen Krankenhaus von einem Agenten der CIA besucht worden, wird von den Autoren für glaubwürdig gehalten. Sie bleiben aber nicht dabei stehen, die bekannte Kolportierung dieser Behauptung durch Richard Labeviere und Alexandra Richard in der französischen Tageszeitung Le Figaro zu wiederholen, sondern befragten eigenständig die (anonyme) Quelle Richards sowie Alain Chouet, einen Offizier des französischen Nachrichtendienstes DGSE.
Die unter "Unanswered Questions" behandelten Aspekte werden ebenso tiefgründig vorgestellt, darunter die Frage, warum die CIA Informationen zu den späteren Attentätern des 11. September Khalid al-Mihdhar und Nawaf al-Hazmi nicht an das FBI weitergab, und ob Elemente des saudischen Königshauses an der Finanzierung der Attentate beteiligt waren. Summers/Swan bieten eine hervorragende, kritische und wohlbelegte Drauf- und Innensicht von 9/11, die unbedingt empfehlenswert ist. "The Eleventh Day" kostet bei Amazon 23,99 Euro.
Summers, Anthony/Swan, Robbyn: The Eleventh Day. The Full Story of 9/11 and Osama Bin Laden. New York: Ballantine Books 2011

Ali Soufan: The Black Banners
Ali Soufan war Special Agent des FBI und Zeit seiner FBI-Laufbahn, die von den Neunzigern bis 2005 andauerte, mit dem Aufgabengebiet der Terrorismusbekämpfung betraut. Im 570seitigen "The Black Banners" legt Soufan seine Memoiren zu dieser Periode seines Lebens vor. Das Buch ist ungemein spannend, da Soufan sowohl vor als auch nach 9/11 zu den profiliertesten Ermittlern und Verhörspezialisten des FBI gehörte und sozusagen stets an vorderster Front dabei war. Er war u.a. Chefermittler im Fall des Selbstmordanschlags auf die USS Cole im Oktober 2000 und beschreibt die hindernisreichen Ermittlungen detailliert, greifbar und bis in die Zehenspitzen elektrisierend. Die komplexen Überschneidungen der Ermittlungen zu und der Beteiligten an diversen Terroranschlägen, insbesondere den Bombenanschlägen auf zwei US-amerikanische Botschaften in Afrika 1998, dem Anschlag auf die USS Cole und 9/11, werden Stück für Stück aufgefächert. Große Teile des Buches nimmt die Schilderung von Verhören von Al-Qaida-Protagonisten ein. Deren Relevanz für 9/11 soll an ein paar Schlaglichtern demonstriert werden. Soufan verhörte Abu Jandal, einen ehemaligen Leibwächter von Osama Bin Laden, der mehrere der 9/11-Attentäter als Mitglieder von Al-Qaida und Besucher von Trainingscamps in Afghanistan identifizierte. Soufan verhörte Abu Zubaydah, das erste Mitglied von Al-Qaida, das Khalid Sheik Mohammed (KSM) als Chefplaner der Anschläge von 9/11 identifizierte. Soufan verhörte (was weniger bekannt ist) Ramzi Binalshibh, die rechte Hand von KSM bei der Planung der Anschläge von 9/11. Schrittweise entsteht so ein naturgemäß unvollständiges, da im Wesentlichen auf den Ermittlungen und Erfahrungen Soufans beruhendes Bild von Al-Qaida und der ständigen Versuche des FBI, Täter und Handlanger in die Hände der Justiz zu bringen.
Ein Ärgernis ist zu nennen. Da Soufan auch die Zusammenarbeit von FBI und CIA, also Bundespolizei und Geheimdienst, thematisiert, ist sein Buch vor Veröffentlichung an die CIA weitergegeben worden, was zu teils umfangreichen Zensurmaßnahmen führte. Insbesondere wenn Soufan die CIA für ihre mangelnde Kooperation kritisiert und im Zusammenhang mit den Folterverhören von Abu Zubaydah haben die Lektoren der CIA ganze Seiten geschwärzt, teilweise völlig sinnlos, weil die geschwärzte Info sich aus dem Kontext ergibt. Man kann hoffen, dass die Taschenbuchausgabe des Buches irgendwann ohne Schwärzungen auskommt. Bis dahin ist auch die gebundene Ausgabe allemal jede Minute der Lesezeit wert. "The Black Banners" kostet bei Amazon 16,95 Euro.
Soufan, Ali H.: The Black Banners. The Inside Story of 9/11 and the War against al-Qaeda. New York & London: W.W. Norton & Company 2011

Richard Miniter: Mastermind
Machen wir gleich bei KSM weiter. Zu dem Chefplaner der Anschläge von 9/11 hat der Journalist Richard Miniter mit "Mastermind" eine Biographie vorgelegt. Der in Kuwait geborene KSM ist nicht der Prototyp dessen, was man sich als den geborenen Terroristen vorstellt. Er studierte in North Carolina und weigerte sich lange, Teil der Organisation Osama Bin Ladens zu werden, da ihm sein eigenes Ego im Weg stand. Wie der mit den USA vertraute Maschinenbaustudent zum Massenmörder von New York werden konnte, versucht Miniter auf 280 Seiten zu beantworten. Leider belässt er es nicht bei einer Biographie von KSM, sondern formuliert bereits in der Einleitung den Anspruch der Verallgemeinerbarkeit seiner Ergebnisse in drei Kernfragen (S. 7f.): Erstens, was motiviert islamistischen Terrorismus? Zweitens, wie arbeitet Al-Qaida? Drittens, sind Folterverhöre legitim? Nicht eine dieser drei Kernfragen wird im Laufe des Buches befriedigend beantwortet, da das Buch eben doch selten über eine Biographie von KSM hinausgeht. Wenn Miniter sich an einer Beantwortung einer der Fragen versucht, ist die Antwort in der Regel eine unmotivierte Verallgemeinerung, etwa auf S. 76: "Bin Laden's claim that he didn't know Ramzi Yousef (and by extension didn't know KSM) tells us something interesting about how careers were developed inside the terror network. After training, you were supposed to develop your own ideas, network to find your own funding, and lead your own team to implement your plan. If you succeed big enough or often enough, you would win a place in the management of Al Qaeda."
Analytisch hat das Buch also deutliche Schwächen. Das ist nicht weiter schlimm, insofern alle genannten Fragen in hinreichend weiterer Literatur behandelt werden, schmälert aber das Narrativ Miniters, da es hinter den eigenen Ansprüchen des Autors zurückbleibt. Mit Bezug auf KSM beantwortet Miniter die Frage nach der Motivation von Terrorismus dreiteilig mit einer Melange aus baluchistanischem Nationalismus, Identifikation mit dem Schicksal der Palästinenser und dem Einfluss der Muslimbruderschaft (S. 28).
Stärker als die analytischen sind die berichtenden Teile, die naturgemäß den größten Teil des Buches einnehmen und auf Interviews des Autors, Medienberichten und der Auswertung von Dokumenten diverser US-Institutionen beruhen, darunter Dokumenten des CIA-run Open-Source Center. Dass Miniter hauptsächlich US-Quellen bemüht, ist ein Nachteil, was die Nähe zum studierten Objekt betrifft, denn KSM ist kein US-Amerikaner und die Organisation, der er angehört, keine US-amerikanische Organisation. Hier sind Journalisten wie Abdel Bari Atwan oder Lawrence Wright, die mit Dolmetscher oder eigenen Sprachkenntnissen betraut aus arabischen Ländern berichten, einen Schritt weiter.
Wie jedes Buch von Miniter ist auch dieses arg durchtränkt von politischer Meinung. Miniter ist beinharter Republikaner, auf keine Regierung von Demokraten in der Geschichte der USA gut zu sprechen, befürwortet Waterboarding und beschwert sich über "an odd alliance of former Clinton officials, liberal activists, and camera-chasing lawyers" (S. 194), die er zu unfreiwilligen Handlangern von KSM und seiner Suche nach Öffentlichkeit erklärt. Auch das schmälert den Gesamteindruck, weil es plumper daherkommt als der doch oft sehr starke Bericht über das Leben KSMs, dem es folgt.
"Mastermind" ist nicht die ultimative Biographie von KSM - da müssen sich, wenn es so ein Buch überhaupt braucht, noch Journalisten von etwas mehr Kaliber rantrauen. Mangels Alternativen und mit Vor- und Nachsicht gelesen ist es aber derzeit die kompakteste Zusammenstellung dessen, was es über KSM zu sagen gibt. "Mastermind" kostet bei Amazon einigermaßen hoch veranschlagte 20,99 Euro.
Miniter, Richard: Mastermind. The Many Faces of the 9/11 Architect, Khalid Sheik Mohammed. New York: Sentinel 2011

Peter Bergen: The Longest War
Zur Nachgeschichte von 9/11 sind anno 2011 zwei hochinteressante Bücher erschienen, die jeweils eine eigene Perspektive bieten. Beide Autoren sind Journalisten, die über Jahre hinweg Qualitätsarbeit zum Thema abgeliefert haben und sich durch ausdauernde Reportage vom Ort der jeweils übermittelten Geschehnisse einen Namen gemacht haben. Peter Bergen, Terrorismusexperte bei CNN, ist der analytische Kopf von beiden. "The Longest War" beschreibt die Auseinandersetzung der USA, d.h. der Regierungen Bush Jr. und Obama, mit Al-Qaida nach 9/11 auf 470 Seiten im Draufblick. Afghanistan, Irak, Pakistan, Guantanamo, Abu Ghraib, die Anschläge von London 2005, das Streben von Al-Qaida nach Massenvernichtungswaffen, schlicht alles was zum Thema Terrorismus-post-9/11 wichtig ist, ist in Bergens neuem Buch Thema und wird, mit immer neuen und interessanten Details unterfüttert, kritisch aufbereitet. Bergen, von Hause aus Journalist, arbeitet hierbei an der Grenze zur Geschichtswissenschaft. Deutlich ist das Bestreben, nicht nur die Geschichte einzelner Protagonisten wiederzugeben, sondern peu a peu eine Totale aufzubauen. Seine Chronologie ist umfassend, die Analyse treffend und bisweilen schmerzhaft. Peter Bergen war 1997 der erste Journalist, der die Person Osama Bin Laden einem "westlichen" Publikum vorstellte, unbedingt empfehlenswert sind auch seine beiden Bücher über OBL. "The Longest War", nicht weniger empfehlenswert, kostet bei Amazon 21,99 Euro.
Jason Burke: The 9/11 Wars
Eine andere Stoßrichtung beim selben Thema nimmt Jason Burke, hauptamtlich Reporter für die britischen Zeitungen Guardian und Observer, ein. Was für Bergen die Analyse ist, ist für Burke der Bericht. Gleich in der Einleitung von "The 9/11 Wars" spricht Burke sich vom Anspruch frei, eine Totale auf das Thema der post-9/11-Welt zu liefern. Vielmehr sieht er die Welt nach 9/11 als ein Potpourri regionaler Konflikte, das sich schwer unter einen gemeinsamen Hut bringen lässt. Die Perspektive, die Burke einnimmt, ist deshalb stets die einer ausgewählten Person, die mittelbar oder unmittelbar am jeweils beschriebenen Konflikt beteiligt ist (wenngleich natürlich auch viele allgemeinere Passagen enthalten sind). Obwohl die Schaustätten der Geschehnisse - hauptsächlich Afghanistan, Pakistan, Irak und diverse europäische Länder - denen bei Bergen gleichen, ist deshalb ein völlig anderes und nicht minder wertvolles Buch entstanden. Burkes Buch beginnt mit einer Bombe, mit der die Taliban im März 2001 in der afghanischen Provinz Baiyan die Buddha-Statuen zerstören, und endet mit Captain José Vasquez, der eine kleine Gruppe von US-Soldaten und Soldaten der Afghanischen Armee durch die Ortschaft Yusuf Khel führt und lakonisch darüber sinniert, ob er den dortigen Anwohnern, die sich über das Verhalten der ortsansässigen Polizei beschweren, überhaupt helfen könne. Ein ungemein kraftvoller, bisweilen deprimierender und mit 700 Seiten sehr ausführlicher Bericht, der ebenso wie die beiden vorhergegangenen Bücher des Autors jeden Cent lohnt. "The 9/11 Wars" kostet bei Amazon 20,99 Euro.
Bergen, Peter: The Longest War. The Enduring Conflict between America and Al-Qaeda. New York: Free Press 2011
Burke, Jason: The 9/11 Wars. London: Penguin Books 2011

Mathias Bröckers/Christian Walther: 11.9. - Zehn Jahre danach
Völlig andere Spuren verfolgen taz-Autor Mathias Bröckers und Freiberufler Christian Walther in "11.9. - Zehn Jahre danach" Das bekannte Narrativ von 9/11 - die USA seien von islamistischen Selbstmordterroristen ohne Vorwissen attackiert worden - ist für die Autoren in jederlei Hinsicht ein "Lügengebäude", das als solches entlarvt gehört. Bröckers und Walther versuchen auf 320 Seiten nicht die Wahrheit einer alternativen Lesart von 9/11, sondern die Falschheit der gegenwärtig etablierten zu belegen. Die Attentäter seien nicht identifiziert; Osama Bin Ladens Dementi seien glaubwürdig, das Bekennervideo vermutlich gefälscht; Teile der CIA kannten möglicherweise die Details der Planung; die Luftabwehr sei sabotiert worden; auf Ground Zero seien Sprengstoffreste gefunden worden. Die Qualität der Beweisführung ist jedoch, soweit der Rezensenten mit dem Gegenstand der Beschäftigung vertraut ist, mangelhaft. Vier lose Beispiele:
Erstens, die Autoren verwenden ein Kapitel ihres Buches (Kap. 31) darauf, die 85 Videos einzufordern, von denen das FBI sagte, dass sie nach 9/11 beschlagnahmt worden seien - insbesondere mit Blick auf den angeblich zur Debatte stehenden Pentagon-Crash. Der Fehler ist bereits die Forderung selbst, denn die Videos sind seit Jahren freigegeben.
Zweitens, die Autoren verwenden ein Kapitel ihres Buches (Kap. 19) darauf, anzuprangern, dass im Juli 2001 angeblich das Absenden von Abfangjägern für eine entführte Passagiermaschine von den Händen der diensthabenden Offiziere in die Hände des Verteidigungsministers gelegt wurde. Der Fehler: Sie lag seit spätestens 1997 dort, wie der Vergleich der Dienstvorschriften zeigt.
Drittens, die Autoren verwenden ein Kapitel ihres Buches (Kap. 9) darauf, die schon vor Urzeiten zu Grabe gelegte Legende zu bemühen, einige der als Attentäter identifizierten Männer hätten sich nach 9/11 quicklebendig gemeldet. Hierbei werden Beispiele angeführt wie ein Mann namens Whalid Alshehri, der sein Bild entgegen der Behauptung der Autoren nicht auf der Täterliste des FBI gefunden hat, sondern von einem Freund informiert wurde, dass sein Bild bei CNN gesendet worden sei. Es liegt eine eindeutige Verwechslung vor, denn das CNN-Bild zeigt nicht den vom FBI identifizierten Täter, zudem hat der Whalid Alshehri, der sich nach 9/11 in den Medien meldete, eine andere Familie und ein anderes Alter als der Whalid Alshehri, den das FBI identifizierte.
Viertens, die Autoren verwenden ein Kapitel ihres Buches (Kap. 26) darauf, die These zu belegen, die militärische Flugabwehr habe bereits um 09:16 Uhr von der entführten vierten Maschine United 93 erfahren, nicht erst um 10:15 Uhr (die "offizielle" Angabe ist übrigens 10:07 Uhr, nicht 10:15 Uhr). Sie berufen sich hierbei auf eine gezielte Auswahl von losen Erinnerungen und Medienberichten, während eine Vielzahl von Primärquellen (Radardaten, Flugdatenrekorderdaten, Funkaufnahmen der zivilen und militärischen Flugüberwachung) vernachlässigt wird, welche belegt, dass der Flug sich um 09:16 Uhr noch nicht auffällig verhielt und die militärische Flugüberwachung tatsächlich vor 10:07 Uhr nicht informiert wurde.
Die sachlichen Fehler gehen einher mit methodischen Fehlern, insbesondere der gezielten Auswahl von Quellen, mit denen die eigene Kritik untermauert wird, dagegen der Vernachlässigung oder Vernebelung von Quellen, die Klärung bringen. Die Autoren sind interessiert an Anomalien oder dem, was sie dafür halten, ein analoges Interesse an ihrer Auflösung lässt sich hingegen nicht ausmachen. Zudem ist der Stil des kompletten Buches aufdringlich distanziert vom Gegenstand, hangelt sich von krampfhaften Pointen zu ironischen Brechungen und wieder zurück. Ist eine These selbst den Autoren zu abenteuerlich, wird sie anderen Protagonisten der Szene alternativer 9/11-Deuter untergeschoben, ihre Diskussion dennoch verlangt. Dieses Manöver immunisiert das ironische Duo von der Sachkritik, die das Buch an vielen Stellen verdient.
Die 16,99 Euro, die man für "11.9. - zehn Jahre danach" bei Amazon berappt, sind in jedes andere der hier besprochenen Bücher sinnvoller investiert.
Bröckers, Mathias/Walther, Christian: 11.9. - Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes. Frankfurt a.M.: Westend 2011

Tom Rockmore: Before and After 9/11
Und noch etwas Wissenschaft zum Schluss. Der Philosoph Tom Rockmore legt mit "Before and After 9/11" eine geschichtsphilosophische Studie von 190 Seiten vor, die der Frage nachgeht, welches historiographische Narrativ 9/11 am besten erklärt, d.h. die Frage nach dem "Warum?" beantwortet. Der Autor setzt sich mit dreien solcher Narrative auseinander: Dem politischen Konflikt von Gut und Böse (nach G. Bush Jr.), dem zivilisatorischen Konflikt von Nahost- und Westkultur (nach S. Huntington) und dem religiösen Konflikt von Islam und Christentum (nach B. Lewis). Rockmore weist sie alle drei als für den Westen voreingenommen zurück und bietet eine alternative Lesart an, eine ökonomische nämlich, in der der Konflikt, der 9/11 zugrunde liegt, ein Konflikt zwischen Kapitalismus und bestimmten traditionellen Auslegungen des Islam sei. "There is an obvious social 'contradiction' between two prominent views of the good life, which are now locked in a deadly confrontation. On the one hand, there is the Western view that the human good lies in ceaseless economic expansion. On the other, there is the fundamentalist Islamic conviction that the human good lies in the ceaseless maintenance of traditional life focused on the religious repetition of the same." (S. 163) Der Autor ist bemüht darum, sowohl über den Westen als auch den Islam nicht zu pauschalisieren, wobei ihm dies überraschenderweise beim Islam besser gelingt als beim Westen.
Kapitalismus tendiere, einmal eingeführt, dazu, so Rockmore, existierende soziale Systeme zu absorbieren und damit auch den Islam, zumindest in der Form, die die ökonomische Ordnung der Gesellschaft nach religiösen Gesichtspunkten vornimmt. Und der Terrorismus von 9/11 gehe unmittelbar auf diesen Konflikt zurück, weil er als Reaktion auf die Globalisierungsbestrebungen des Kapitalismus aufgefasst werden sollte, auf die Zerstörung aller großen islamischen Imperien und der Reduktion des westlichen Interesses am Islam auf das Interesse an den Wirtschaftsressourcen islamischer Staaten. Lose auf dieser Analyse aufbauend kommentiert Rockmore im letzten Kapitel drei Kriege, die aus 9/11 hervorgegangen sind: Afghanistan, Irak und den "War on Terror". Hier wird u.a. alles, was die Administration Bush Jr. zur Rechtfertigung des Irakkriegs äußerte, deutlich abgekanzelt: "Everything points to the fact that the decision to go to war in fact depended on esoteric reasons never presented to the public, and that the exoteric public process was, and was intended to be, no more than a propaganda campaign undertaken to sway public opinion." (S. 160)
Rockmores Büchlein ist ein angenehm differenziertes Analyseangebot, das intellektuell in eine Liga mit den Veröffentlichungen von Michael Scheuer gehört, die es lehrreich ergänzt. "Before and After 9/11" kostet bei Amazon teure 23,99 Euro.
Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen
Einen deutschsprachigen Beitrag aus der Wissenschaft liefert der Hamburger Historiker Bernd Greiner, dessen Buch "9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen" nach dem von Stefan Aust herausgegebenen SPIEGEL-Output "11. September - Geschichte eines Terrorangriffs", der immerhin schon 9 Jahre alt ist, erst der zweite ernstzunehmende mir bekannte deutschsprachige Versuch ist, 9/11 in der Totale abzuhandeln. Greiners Ansatz ist simpel: Es gibt den Tag selbst, ein Davor und ein Danach, das komplette Trio gehört historisch beleuchtet. Die Schilderung Greiners des Tages selbst entspricht (ignoriert man Ungenauigkeiten bei zwei, drei Details) der Darstellung der 9/11-Untersuchungskommission, mit einigen kritischen Weiterführungen. Zu diesen gehört etwa der wertvolle Hinweis darauf, dass der um kurz nach 10:00 Uhr doch noch erteilte Abschussbefehl am 11. September vermutlich direkt von Vizepräsident Dick Cheney kam und damit illegal war (der Vizepräsident ist nicht Teil der National Command Authority [NCA], die einen solchen Befehl hätte geben können). Das Davor wird als eine Geschichte von Osama Bin Laden und Al-Qaida vorgestellt, von den US-unterstützten Mudschahedin, die in den 80ern in Afghanistan gegen die sowjetische Besatzungsmacht kämpften (finanziell und logistisch unterstützt vom damaligen Weltmachtkonkurrenten USA) über die Umsiedlung des immer radikaler werdenden Unternehmers von Saudi-Arabien in den Sudan und schließlich unter die Schirmherrschaft der Taliban in Afghanistan bis zu den offenen Kriegserklärungen an die USA 1996 und 1998.
Den größten, originellsten und deshalb wertvollsten Teil des Buches nimmt jedoch die Betrachtung des Danach ein, die sich nahezu ausschließlich an der Analyse der politischen Reaktion der Regierung Bush Jr. auf die Anschläge konzentriert und als eine Geschichte von (vom Autor hart kommentierten) Fehltritten entpuppt. Da sind die außenpolitischen Fehltritte: Die aus Zeiten des Kalten Krieges herübergerettete Konzentration der USA auf den Irak, der mit 9/11 nichts zu tun hatte; der in Afghanistan gewonnene Krieg, dann jedoch verlorene Frieden; die zweifelhafte Allianz der USA mit afghanischen "warlords"; die verlogene Inszenierung des Irakkrieges; das Versagen der CIA bei diesem Krieg, die sich politisch instrumentalisieren ließ; die Ignoranz gegenüber der Position anderer Staaten der Weltkarte. Da sind die innenpolitischen Fehltritte: Selbstermächtigung der Exekutive und die Unwichtigwerdung des Kongresses werden zu Indikatoren einer "imperialen Präsidentschaft", bei der das Prinzip der Gewaltenteilung peu a peu unterlaufen wird. Das Ergebnis ist, so Greiner, dass die USA nach 9/11 von einem Rechtsstaat zu einem Machtstaat geworden sind, dessen Funktionsprinzipien auf S. 176 beinahe launisch aufgezählt werden: "Rechtsbeugung und Einschüchterung, Intrigen und Machtmissbrauch, Loyalität und Geheimhaltung - die Ingredienzien der turbulenten Vorgänge vom Frühjahr 2004 sind gleichmäßig über die achtjährige Präsidentschaft von George W. Bush verteilt." Das doppelzüngige Spiel mit den Foltervorwürfen und die Verschleppung mutmaßlicher Terroristen in Lager werden zu weiteren Illustrationen dieser These. Und auch mit Obama, so Greiner, sei noch lange keine Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien erfolgt.
Ein sich durch alle Teile der 280 Seiten des Buches ziehender Fokus hält die Analyse terminologisch zusammen und macht sie gleichzeitig in jedem Einzelschritt plausibel: Die dargestellten Episoden werden als Konflikte präsentiert und der Umgang mit diesen Konflikten als Lösungsstrategien. Das macht den spezifischen Wert von Greiners Buch aus, dessen Einforderung von Rechtsstaatlichkeit der in den ewigen Jagdgründen verschwundenen Administration Bush Jr. ebenso ins Stammbuch geschrieben sei wie der Folgeadministration Obama, die zugegebenermaßen eine Schweinerei zu korrigieren hatte, bei der ein Scheitern nahezu vorprogrammiert war. "9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen" kostet bei Amazon 19,95 Euro.
Rockmore, Tom: Before and after 9/11. A Philosophical Examination of Globalization, Terror, and History. New York: Continuum Books 2011
Greiner, Bernd: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. München: C.H. Beck 2011




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