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Silke Leopold (Hrsg.): Mozart Handbuch
von ta anno 2006

Silke Leopold (Hrsg.): Mozart Handbuch

2006, Mozart-Jahr, 250. Geburtsjubiläum - und jeder, der was auf sich hält, will mitwirken beim Abfeiern einer beinahe nicht mehr menschlichen Musikproduktionsanstalt aus dem 18. Jahrhundert. Man stelle sich das Unterfangen vor, das gesamte Oeuvre dieser mit menschlichen Zügen ausgestatteten Produktionsanstalt namens Mozart in einem einzigen Buch werkanalytisch zu kommentieren und dabei die historische Dimension auch nicht zu vergessen. Ein unmögliches Unterfangen? Nun, das "Mozart Handbuch" widmet sich eben diesem. Herausgekommen ist ein in jederlei Hinsicht gewaltiger Brocken der Fachliteratur: Auf stolzen 735 recht großformatigen Seiten wird ohne Punkt und Komma geschrieben und geschrieben, gelegentlich zitiert, gelegentlich ein Bild eingeflochten, der Rest ist Text von Musikwissenschaftlern, die sich vornehmlich der Werke Mozarts annehmen. Das "Mozart Handbuch" wagt sozusagen eine Gratwanderung: Auf der einen Seite steht der Anspruch, das Werk Mozarts umfassend abzuhandeln, d.h. nichts Wesentliches auszulassen. Ob dieser Anspruch erfüllt wurde, sollen ausgefuchste Archivare beurteilen, die vielleicht doch noch in irgendwelchen Hinterstübchen Notenhandschriften entdeckt haben, welche im "Mozart Handbuch" nicht mit abgehandelt werden. Von meiner Warte aus ist die Menge an behandelten Werken jedenfalls immens und philologische Probleme scheint es, wenn man dem abschließenden Kapitel von Dietrich Berke Glauben schenken darf, bei Mozart ohnehin keine nennenswerten zu geben. Anspruch Nr. 2 dieses Buches: Es soll keine Sammlung von ausschweifenden Werkanalysen sein, also solchen, die Partituren von vorne bis hinten durchgehen. So sind auch mehr als zwei Seiten für eine Werkanalyse nicht allzu oft drin. Deshalb ein abschließendes Urteil bereits am Anfang: Sowohl das "Mozart" (gemeint ist der Komponist, nicht die private Person) als auch das "Handbuch" im Titel sind gerechtfertigt. Das "Mozart Handbuch" ist eine ebenso kompakte wie umfassende Lektüre, wenn man sich Informationen zum Werk Mozarts einholen möchte.
Gehen wir ein wenig ins Detail. Das Handbuch ist streng gegliedert nach Gattungskriterien. Nacheinander in Kapiteln geordnet werden eingehend besprochen Mozarts Opern, seine geistliche Musik, die Sinfonien, Konzerte, Kammermusik, Klaviermusik, Serenaden/Divertimenti, Tänze/Märsche und zuletzt kleinere Sachen (Lieder usf.). Eingerahmt wird der werkanalytische Teil durch zwei längere Methodenreflexionen, eine philologische, die ich bereits erwähnte, und eine generelle zum Entstehen und Kultiviertwerden bestimmter Mozart-Bilder zu Beginn des Handbuchs. Letztere ist (wie auch das erste der beiden Opernkapitel) von Herausgeberin Silke Leopold verfasst und stellt den Arbeitsansatz des Buches vor, wie es auch den Versuch unternimmt, die Mozart-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts einer allgemeinen Kritik zu unterziehen. Besonders der Versuch, das Werk aus der Privatperson zu erklären, wird vehement verworfen. Stattdessen, so Leopold, sei die Vielschichtigkeit des Werks Mozarts nur unter einem ebenso vielschichtigen Grundeinstellung des Analysierenden treffend zu erfassen, was heißt, dass sowohl allgemeine Gattungsüberlegungen als auch historische Leitlinien als auch Mozarts künstlerisches Selbstverständnis - er sieht sich selbst als eine Art Pendel zwischen progressiven und popularen Tendenzen - zum Betrachtungsgegenstand werden müssen. Das Ziel ist es also, am Ende ein möglichst komplexes, vielschichtiges Mozart- bzw. Werkbild vor Augen zu haben. Dieser Komplexität wird nicht zuletzt dadurch Ausdruck verliehen, dass am "Mozart Handbuch" elf verschiedene Autoren beteiligt sind. Generell sind die Sachen, die Leopold selbst schreibt, uneingeschränkt zu empfehlen: Verständlich und klar formuliert, sinnvoll argumentiert und glasklar strukturiert.
Die Struktur der Einzelkapitel aller Autoren bleibt im Wesentlichen gleich: Auf einen einführend-allgemeinen Teil folgen Werkanalysen ohne Ende, die Opern werden noch mit kurzen Handlungszusammenfassungen versehen. Ich gebe offen zu, dass ich nicht einmal die Hälfte der Werkanalysen tatsächlich durchgelesen habe. Das liegt daran, dass man an selbigen wenig Spaß hat, wenn man kein Musikwissenschaftler ist und/oder sich mit speziellem Interesse an einem bestimmten Werk an die Lesearbeit macht. Ich, als durchaus mit der Terminologie Vertrauter, aber nicht Studierter und auch nicht an speziellen Werken Interessierter, konnte starke Ermüdungserscheinungen nicht unterdrücken. Die einfache Erklärung dafür ist die, dass es sehr theoretisch zugeht, fast gänzlich ohne Illustrationen durch z.B. Partituren, andererseits aber auch oft zu kurz und knapp (z.B. nur eine halbe Seite lang), um sich sein Mozart-Konzert dann doch mal aus dem Plattenschrank zu holen und an einzelnen Stellen nachzuprüfen, ob man mit die Stoßrichtung der jeweiligen Interpretation für verfolgenswert hält. Und, wie bereits gesagt: Für mit der Terminologie der Werkanalyse und Musiktheorie Unvertraute sind die Interpretationen nur schwer zu durchsteigen. Spannender geht es in den allgemeinen, meist hochklassigen Einleitungsteilen zu, was besonders das Kapitel zu den Sinfonien (Volker Scherliess) als auch das durchaus überraschende Kapitel zur geistlichen Musik (Hartmut Schick) betrifft; "überraschend", weil die geistliche Musik Mozarts keineswegs wie in der Forschung üblich als eine dem Komponisten lästige Pflichtarbeit, sondern als dessen Herzensangelegenheit ausgewiesen wird. (Es sei hier angemerkt, dass Mozarts geistliche Musik den sicherlich in der öffentlichen Wahrnehmung am meisten unterrepräsentierten Teil seines Werkes darstellt und insofern dieses Kapitel, wie mir scheint, tatsächlich ein Stück Neuland in der Mozart-Philologie betritt.) Gelungen ferner die Interpretationsproblemreflexionen im Kapitel über Mozarts Klaviermusik (Marie-Agnes Dittrich). Stilistisch bleibt es durchweg bei meist recht klar formulierter Wissenschaftsprosa (auf die spezifische Qualität der Leopold-Artikel wies ich ja schon hin) und für Wissenschaftler ist das "Mozart Handbuch" dann auch in erster Linie gedacht. Nicht so gut mit der Materie Vertraute können natürlich theoretisch auch die Gelegenheit nutzen, sich mit dem Handbuch einen umfassenden Überblick über Mozarts Werk zu verschaffen, dürften aber, s.o., mit den Werkanalysen (die den größten Teil des Buches stellen) ihre Probleme haben. Deswegen ist das "Mozart Handbuch" nicht wirklich als Einführung zu empfehlen, als weiterführende Lektüre aber auf jeden Fall, gerade für jemanden, der sich einem speziellen Werk Mozarts widmen will und nach einer Interpretationsfolie sucht. Die (erschienen als Coproduktion der Verlage Bärenreiter und Metzler) kostet ihn nicht ganz harmlose 79,95 Euro, für die er unter der ISBN 3-7618-2021-6 seine 735 Seiten im Hardcover bekommt.



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