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Reinhard Lassek: Wir vom Posaunenchor. Geschichte und Geschichten
von rls anno 2015

Reinhard Lassek: Wir vom Posaunenchor. Geschichte und Geschichten

120.000 Mitglieder zählt der EPiD, der Evangelische Posaunendienst in Deutschland, und dürfte damit einer der personenstärksten Verbände im musikalischen Bereich überhaupt sein. 7000 Posaunenchöre gibt es deutschlandweit, und wer einmal ein großes Posaunenfest besucht hat, dürfte allein schon anhand der schieren Menge der dort versammelten Blechbläser samt der von ihnen erzeugten Geräusche einen nachhaltigen Eindruck mitgenommen haben - im positiven oder, wie böse Zungen behaupten, auch negativen Sinne. Immerhin hat eine Handvoll Bläser im Alten Testament ausgereicht, die Mauern Jerichos in Schutt und Asche zu legen - und beim Deutschen Evangelischen Posaunentag 2008 in Leipzig waren 16.000 anwesend, darunter übrigens auch der Rezensent. Das Zentralstadion, in dem der Abschlußgottesdienst gefeiert wurde, steht freilich immer noch ...
Den Weg von Jericho nach Leipzig zeichnet Reinhard Lassek in seinem Buch "Wir vom Posaunenchor" nach, und er tut das mit dem Anspruch, einerseits faktenseitig auf sicherer Grundlage zu stehen und Wissen zu vermitteln, andererseits dieses Wissen auf unterhaltsame und leicht lesbare Weise zu transportieren und es zudem mit diversen Anekdoten anzureichern, woraus sich der Untertitel des Buches ergibt. Und man kann Lassek, der in der Hauptprofession Wissenschaftsjournalist ist und selber einen Posaunenchor leitet, wie das auch schon sein Vater und sein Großvater getan hatten, nach der Lektüre attestieren, dieses Ziel über weite Strecken erreicht zu haben, vielleicht sogar mit etwas zu großer Genauigkeit. Denn es gibt da in der Geschichte noch diverse Areale, über die sich der Schleier der Ungewißheit legt, weil zu bestimmten Aspekten noch Forschungsbedarf herrscht. Und so kommt Lassek zu der Ansicht, die Geschichte des Posaunenchors heutiger Prägung beginne in den 1840er Jahren in Westfalen, und behandelt die 100 Jahre älteren Posaunenchöre der Herrnhuter Brüdergemeine nur am Rande. Der Fakt, daß Gustav Meyer, der 1843 im westfälischen Jöllenbeck den ersten Posaunenchor gründete, den diesbezüglichen Initialzündungsfunken über den Zwischenschritt der diakonischen Anstalten in Düsselthal von den Herrnhutern in Neuwied empfangen hatte, wird von Lassek eher am Rande erwähnt, obwohl genau die räumliche Verbreitung der Herrnhuter die strukturelle Voraussetzung für diese künstlerische Befruchtung darstellte. Ob es gleichartige Impulse auch an anderen Orten, etwa in der oberlausitzischen Heimat der Herrnhuter, gab und beispielsweise die sächsischen Posaunenchöre nicht vielleicht viel älter sind als bisher angenommen, stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar, auf das zuletzt Karl-Ernst Müller 2008 in den Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz hingewiesen hatte.
Von derartigen Ausnahmen abgesehen stellen sich Lasseks Ausführungen aber als ein stimmiges und kenntnisreiches, dazu sehr gut geschriebenes Werk dar. Der Autor behandelt neben dem Jöllenbecker auch den Hannoveraner Zweig der frühen Posaunenchorarbeit, stellt die Aktivitäten der großen Führerfiguren wie Johannes Kuhlo in den Mittelpunkt seiner Schilderungen und arbeitet sich so in der Geschichte bis zur Gegenwart nach vorn. Die heikle Zeit des Nationalsozialismus spart er nicht aus, wobei sich einzelne Passagen ein wenig zu sehr wie eine Rechtfertigung anhand unseres heutigen Blicks auf den Nationalsozialismus lesen. Auch wäre hier interessant gewesen, wie die Verteilung der Chöre zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche aussah - aber möglicherweise stand der Autor auch hier vor einem Forschungsdesiderat. Ein Mißverhältnis ergibt sich zwischen Lasseks Abwertung der Anweisung von Johannes Kuhlo, daß dessen Sätze zum Horst-Wessel-Lied ausdrücklich nicht für den Gebrauch im christlichen Kontext gedacht sind (S. 85f.), und seiner Hochschätzung (im Sinne des antinationalsozialistischen Widerstandes) der Beschwerde der Unterelbischen Kreisverbindung, weil der Superintendent die Festveranstaltung zum 50. Jubiläum des Posaunenchores Soltau mit dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied hatte beschließen lassen (S. 81f.). Im Großen und Ganzen ist Lasseks Argumentation aber nachvollziehbar, und er scheut sich auch nicht davor, den Finger in manche noch offene Wunde der fehlenden Aufarbeitung zu legen. Daß sich dieses Kapitel wie auch die anderen mehr als spannend liest, steht ohnehin außer Frage. Bei der chronologischen Schilderung in der Gegenwart angekommen, behandelt Lassek dann noch Fragen der Chorsoziologie - ohne diese ist der Erfolg dieser musikalischen Laienbewegung schließlich nicht zu verstehen. Natürlich sind es gerade diese Kapitel, bei denen der selbst choraktive Leser häufiger wissend mit dem Kopf nicken wird, während sich dem nicht choraktiven Leser mancher Zusammenhang nicht so richtig erschließen wird. Aber das liegt in der Natur der Sache, und auch der letztgenannte Personenkreis bekommt zumindest eine Ahnung davon, wie der erstgenannte Personenkreis so tickt, so daß sich die Anschaffung des 160seitigen Buches prinzipiell für beide lohnt. Ach ja, und wer schon immer wissen wollte, warum ein Posaunenchor so heißt, obwohl die wenigsten seiner Mitglieder eine Posaune spielen: Das ist nur eine von vielen Fragen, die das Buch beantworten hilft.

Reinhard Lassek: Wir vom Posaunenchor. Geschichte und Geschichten. Freiburg im Breisgau: Kreuz-Verlag 2014. Festeinband, 160 Seiten. ISBN 978-3-451-61274-9. 14,99 Euro. www.kreuz-verlag.de
 






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