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Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik
von ta anno 2005

Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik

"Die Akkorde sind in der Musik das, was die Wörter in der Sprache." Und weil Sprache erst Sinn macht, wenn die Verwendung von Wörtern zur Bezeichnung außersprachlicher Entitäten zwischen Teilnehmern einer Sprache klar geregelt ist, muss auch die Verwendung von Akkorden in einer Partitur diversen Regeln genügen, damit man als Teilnehmer eines kompositorischen Diskurses am Ende sinnvolle Musik dastehen hat. Zumindest sind dieses Programm (Regeln entwerfen, nach denen Musik funktioniert ...) und diese ästhetische Maxime (... um gut zu sein) die Brennpunkte von Kirnbergers Kunst des reinen Satzes, 1771 erstmals erschienen, 2004 durch den Bärenreiter-Verlag im Faksimile-Druck (also in Frakturschrift inkl. einiger korrupter Stellen und stattlichem, im Anhang korrigiertem Fehlerkatalog) wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Gegensatz zu diversen bekannten Anleitungen, wie ein Musikinstrument richtig zu bedienen sei, etwa denen von W. A. Mozart oder C. P. E. Bach, handelt es sich bei Kirnbergers Kunst des reinen Satzes um eine Anleitung zur Komposition eines Musikstücks, das gewissen Standards genügt. "Gewisse Standards" heißt zuerst und vor allem die Satztechnik von J. S. Bach, Musikrevolutionär, Musikmathematiker und Lehrer Kirnbergers. Im Prinzip kann Kirnberger verstanden werden als jemand, der Bachs kompositorische Methodikpraxis in eine systematische Theorie übersetzt hat (als Beleg dafür mag die Menge an Bach-Zitaten in den von Kirnberger angeführten Kompositionsausschnitten dienen, an denen das erworbene Regelwerk erprobt bzw. nachgewiesen wird). Ziel des Werks ist es jedoch keineswegs, den Bachschen Kontrapunkt zu erklären (dieses Unternehmen ist einem zweiten Teil der Kunst des reinen Satzes vorbehalten, nachgedruckt wurde nur der erste), sondern - fundamentaler - eine Harmonielehre abzuliefern, die den Schattierungen der Gegenwartsmusik des 18. Jhs. gerecht zu werden vermag, ohne von der Grundüberzeugung abzuweichen, dass mit Bach der Gipfelpunkt kompositorischer Klasse bereits ein Stück vorher erreicht war. Das betrifft insbesondere die solidarische Berücksichtigung des sogenannten galanten Stils (der etwa in Phrasierung, Melodieführung nicht die Strenge eines Bach aufwies; S. 80ff.) bzw. die Fundierung der Harmonisierung eines Stückes über den Generalbass (nicht etwa kontrapunktische Stimmenführung). Dass Kirnberger selbst Bach-Fugen unter dem Diktum des Generalbasses, nicht des Kontrapunktes untersucht, mag Bach-Experten nicht schmecken, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Kunst des reinen Satzes ein wichtiges historisches Kompendium zum Aneignen eines kohärenten Kompositionsstils darstellt, ein Fahrplan für den angehenden Komponisten also. Dass Abenteuer wie die Zwölftonmusik (frühes 20. Jh.) oder permanente Quintparallelen (spätes 20. Jh.) keine Beachtung finden, muss dabei wohl nicht erwähnt werden, soll nur darauf hinweisen, dass historisches Bewusstsein beim Studium von Kirnbergers Werk, besonders in seinen ästhetischen Versatzstücken, unbedingt angebracht ist, wenn man es denn als Grundlegung der Kompositionskunst versteht. Mit diesem Bewusstsein bekommt man nicht nur einen tiefen Einblick in ein beinahe mathematisches Musikverständnis, eine fundierte (wenngleich, wie gesagt, auf ein historisches Ideal hin zugeschnittene) Einführung in verschiedene Akkordtypen, den Gebrauch von Kon- und Dissonanzen, Kadenzen, Modulation oder die Lehre von den Intervallen überhaupt, sondern auch ein Handbuch, das es so manchem "Popularstümper" um die Ohren zu hauen gilt. Sämtliche Notenbeispiele, die Kirnberger anführt (und das sind - praktischerweise - überaus viele), sind übrigens im Sopranschlüssel notiert. Spätestens hier wird der Laie seine Probleme bekommen, "Die Kunst des reinen Satzes" ist letztlich ganz klar Expertenware. Eine gute Einführung in Intention, historische Begleitumstände und Inhalt des Lehrbuchs bietet der Herausgeber in einer kurzen Einleitung (nicht in Frakturschrift :-). Experten stecken also schleunigst 19,95 Euro in die Tasche (das macht etwa 0,07 Euro pro Seite) und begeben sich mit der ISBN 3-7618-1725-8 dahin, wo die Bücher wachsen.






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