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Necla Kelek: Die verlorenen Söhne
von mh anno 2006

Necla Kelek: Die verlorenen Söhne

Warum scheitern so viele türkisch muslimische Jungen in der deutschen Schule? Warum werden sie als Jugendliche dreimal so häufig straffällig wie ihre deutschen Altersgenossen? Sind soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen der Migranten die Ursache dafür?
Mit ihrem 2005 erschienenen Buch "Die fremde Braut" hat die Autorin eine heftige Debatte über Zwangsheirat und die gescheiterte Integration der Türken in Deutschland entfacht.
Jetzt wendet sie sich mit ihrem Buch "Die verlorenen Söhne" der anderen Hälfte der türkisch-muslimischen Gesellschaft zu, den türkisch muslimischen Männern. Diese folgen ihrer Meinung nach einem Rollenbild, das nach innen Gehorsam und Unterwerfung verlangt. Nach außen wird Männlichkeit mit Stärke und Gewalt gleichgesetzt. Sie berichtet von Vätern, deren Wort Gesetz ist - so wie Allahs Wort Gesetz ist. Necla Kelek berichtet von Söhnen, die misshandelt und gedemütigt werden - aber keiner von ihnen stellt die Berechtigung zu väterlicher Gewalt in Frage. Sie werden geschlagen und dürfen selbst schlagen - als ein vom Vater eingesetzter "Ordnungshüter" sind sie für ihre Schwestern verantwortlich, und der Koran, die Sunna und das männliche Vorbild halten vielfältige Rechtfertigungen für die Minderwertigkeit der Frauen bereit.
In der türkisch-muslimischen Männerwelt werden die Söhne nach einer schwarzen "Pädagogik" erzogen, die die Väter schon von den Vätern erfahren haben. Schläge sind dabei eine Stärkung der eigenen Macht, "Respekt" ist die Angst des anderen, "Schande" die eigene Schwäche, wenn man Fehler eingestehen müsste. Die eigentliche Gefahr beginnt dort, wo Kinder zur Nachahmung (im Sinne von Kadavergehorsam) erzogen werden, denn alles ist "vorherbestimmt". Sie sollen tun, was "man tut" - so wie die Älteren es machen: nicht fragen, sondern gehorchen. Eigene Überlegungen werden herausgedroschen, alles unter dem Gesichtspunkt es "gut mit den Kindern" zu meinen. Diese Regeln fußen auf einem Welt- und Menschenbild, das wie der seit Jahrhunderten "versiegelte" Koran von Generation zu Generation weitergereicht und in blutigen Ritualen wie Beschneidungshochzeit und Opferfest immer wieder, auch hier in Deutschland, bestätigt wird.
Die "verlorenen Söhne" können die Zerreißprobe zwischen den archaischen Traditionen, die von ihnen Unterwerfung und Gehorsam verlangen, und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft, die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erwartet, nicht bewältigen. Wenn aber Integration gelingen soll, darf der Einzelne nicht mehr als Repräsentant einer türkisch-muslimischen "Wir-Gesellschaft" auftreten, sondern er muss diesen Weg als eigenständige Persönlichkeit gehen.
Das Buch kann ein wichtiger Bestandteil zum besseren Verständnis unserer türkisch stämmigen Mitbürger werden. Es deckt gut gehütete Geheimnisse der türkisch-muslimischen Gesellschaft auf, löst bei deutschstämmigen Menschen Betroffenheit über die bisherige Unwissenheit darüber aus. Es wäre wünschenswert, wenn möglichst viele Menschen, die in der Migrationarbeit tätig sind, es lesen und dadurch Denkanstöße zu einem problemloseren Miteinander bekommen und solche anzuregen.
Es ist anerkennenswert, dass die Autorin den Mut dazu hat als Frau die Missstände aufzuzeigen und den Lesenden Mut zu machen ihre Persönlichkeit zu stärken um dadurch der Gewalt in den Familien und der Gesellschaft "die Stirn" zu bieten.
Die Autorin:
Dr. phil. Necla Kelek wurde 1957 in Istanbul geboren. Sie studierte in Deutschland Volkswirtschaft und Soziologie, promovierte über das Thema "Islam im Alltag" und forscht seit Jahren zum Thema "Parallelgesellschaften". Im November 2005 wurde sie mit dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München ausgezeichnet. 2005 erschien ihr Buch "Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren türkischen Leben in Deutschland".

Necla Kelek: Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. 218 Seiten, ISBN 10: 3-462-03686-6 und ISBN 13: 978-3-462-03686-2.






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