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Uwe Karte: Montreal privat. Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer
von rls anno 2016

Uwe Karte: Montreal privat. Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer

1976 war ein gutes Jahr - nicht nur weil in selbigem der Rezensent geboren wurde (hüstel). Nein: Im Sommer feierte der DDR-Fußball mit dem Sieg im Olympiaturnier von Montreal seinen international größten Triumph. Das tangierte den zu diesem Zeitpunkt reichlich drei Monate alten späteren Rezensenten nur wenig - er begann sich erst in den 1980ern für Fußball zu interessieren, entwickelte sich regionen- wie familiengemäß zum Anhänger des 1. FC Lokomotive Leipzig und ärgerte sich, weil er 1987 aufgrund der späten Anstoßzeit das Finalspiel im Europacup der Pokalsieger nicht anschauen durfte, das die Leipziger mit 0:1 gegen Ajax Amsterdam verloren (das Tor erzielte Marco van Basten, dessen fußballerischer Stern dann im Folgejahr bei der EM richtig aufging und in den seit dem dortigen 3:1-Sieg Hollands gegen England eine damals 14jährige Thüringerin verschossen war, die dann Jahrzehnte später die Freundin des Rezensenten wurde - aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte). Dreimal schafften es DDR-Klubs ins Finale eines Europacup-Wettbewerbs, alle übrigens bei den Pokalsiegern: Neben dem FCL wurde auch der FC Carl Zeiss Jena bezwungen (Dinamo Tbilissi gewann 1981 mit 2:1), während der 1. FC Magdeburg 1974 den AC Mailand mit 2:0 nach Hause schickte. Und 1974 stellt noch ein anderes markantes Jahr des DDR-Fußballs dar: Zwar schaffte es die DDR nie zu einer Europameisterschafts-Endrunde (zumindest die Erwachsenen nicht, wohingegen die U-19-Junioren 1986 in Jugoslawien sogar Europameister wurden und bei der folgenden WM in Chile Bronze gewannen), aber 1974 war sie bei der Weltmeisterschafts-Endrunde dabei, die ausgerechnet in der BRD stattfand, also nicht nur schlicht im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, sondern im anderen deutschen Staat, zu dem das Verhältnis trotz der vor allem unter der Brandt-Regierung erzielten Entspannungserfolge naturgemäß besonders kompliziert war. Daß die Mannschaft dort den Gastgeber auch noch mit 1:0 schlug (das Stichwort "Sparwasser" sollte genügen), brachte die DDR-Verantwortlichen in eine verzweifelte Zwickmühle aus Jubel und Ernüchterung, denn dadurch erwischte die Elf die deutlich schwerere Zweitrundengruppe und hatte gegen die Niederlande, Brasilien und Argentinien nur Außenseiterchancen, kam aber immerhin nicht auf dem letzten Platz ein, sondern ließ die Argentinier hinter sich (die dann vier Jahre später Weltmeister wurden).
Die Vorgeschichte der WM und die deutsch-deutschen Duelle im Europapokal 1973 (Dynamo Dresden scheiterte denkbar knapp am FC Bayern München, der FCL hingegen bootete Fortuna Düsseldorf aus) bilden die Ausgangspositionen von Uwe Kartes Buch, das die Geschichte von dieser Zeit bis zum Olympiasieg der DDR-Mannschaft 1976 in Montreal und dessen Nachwirkungen erzählt. Mancher Leser wird vielleicht die offiziellen Publikationen des Sportverlages Berlin im Regal stehen haben, also das großformatige Buch über die Montreal-Spiele, wie es standardmäßig über alle Olympischen Spiele erschien, sowie den 1976er Band von "Europameisterschaft/Europacup", einer Buchserie, die im Vierjahresturnus veröffentlicht wurde und jeweils eine Europameisterschaft und vier EC-Saisons aufarbeitete. Kartes Buch bringt eine teilweise völlig andere Sichtweise ein - zum einen aufgrund der sehr persönlichen Erzählweise des Autors und der umfangreichen Einbindung der Zeitzeugen, also der heute noch lebenden Spieler von damals, zum anderen durch die Beleuchtung der politischen und sportpolitischen Hintergründe, etwa der Machtkämpfe der DDR-Sportführung mit der Leitungsebene des DDR-Fußballverbandes oder der Abneigung von Manfred Ewald, Chef des Deutschen Turn- und Sportbundes, gegen Mannschaftssportarten, weil deren Medailleneffektivität naturgemäß viel geringer war als die von Einzelsportlern, die z.B. in der Leichtathletik oder im Schwimmen auch noch in mehreren Disziplinen antreten konnten, während beim Fußball eine Truppe von zweistelliger Kopfgröße eben maximal eine Medaille gewinnen konnte. In der Olympia-Qualifikation für Montreal schaltete die DDR-Vertretung neben Griechenland und Österreich immerhin die CSSR aus, die dann 1976 Europameister wurde, nachdem Uli Hoeneß im Elfmeterschießen des Finales seinen Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad gedonnert und Antonin Panenka Sepp Maier mit einem seiner originellen Effet-Elfmeter in die Tormitte überlistet hatte (die DDR selbst war in der Qualifikation zu dieser EM auf originelle Weise gescheitert: 3:1 Punkte gegen Belgien, 3:1 Punkte auch gegen Frankreich - aber 1:3 Punkte gegen Island). Bei der Endrunde kam die Mannschaft von Georg Buschner in der Gruppenphase schwer in Schwung, erreichte aber trotzdem gegen Brasilien und Spanien (Sambia hatte sein Team zurückgezogen) die K.o.-Phase, in der sie nacheinander Frankreich, die UdSSR und schließlich im Finale den 1974er WM-Dritten Polen bezwang und während dieser fünf Spiele gerade einmal zwei Gegentore kassierte. Selbst wenn man bedenkt, daß die Mannschaften aus der westlichen Hemisphäre aufgrund der Amateur-Regelung nicht mit ihren stärksten Formationen antreten konnten (während die sozialistischen Sportler offiziell Amateure waren, wenngleich sie oftmals trotzdem unter Profibedingungen arbeiteten), so war immer noch genug Qualität im Spiel. So wirkten bei Frankreich mit Platini und Fernandez zwei aus der späteren magischen Mittelfeldreihe mit, und die UdSSR und Polen hatten ja die gleichen Ausgangsbedingungen wie die DDR und konnten daher mit den stärksten Formationen antreten. Versuche, den DDR-Erfolg kleinzureden, sind daher durchaus unberechtigt, auch wenn in der westlich dominierten Fußballwelt der WM-Titel einen höheren Stellenwert besitzt und dieses Argument im seinerzeitigen Klassenkampf natürlich eine ebensogroße Rolle spielte wie auf der anderen Seite der 1974er Sieg der DDR gegen den Klassenfeind und späteren Weltmeister.
Kartes Buch endet mit der Auszeichnungsreise der DDR-Fußballnationalmannschaft 1977 nach Kuba. Wie alle anderen ist auch dieses Kapitel reich bebildert, überwiegend mit Aufnahmen und Dokumenten aus den privaten Archiven der Spieler, was dem Buch zusätzlich zum erwähnten Interviewaspekt noch einen weiteren persönlichen Aspekt verleiht. Hans-Jürgen "Dixie" Dörner spielt diesbezüglich die zentrale Rolle, aber auch viele andere der Spieler kommen zu Wort und stellten Material zur Verfügung. Kuriosum am Rande: Heinz Florian Oertel machte die Leser der "fuwo" schon 1974 mit dem Eyjafjallajökull bekannt, der erst 2010 europaweite Bekanntheit bekommen sollte. Und noch ein Kuriosum, aber DDR-typisch: Im fuwo-Interview mit Georg Buschner auf S. 76 geht es sechs kurze Fragen und Antworten lang um Fußball, die siebente Antwort, nämlich auf die Frage nach dem bevorstehenden IX. Parteitag der SED, aber ist so lang wie drei oder vier der anderen Antworten zusammen. Ähnliches findet man im Kommuniquè auf S. 90, wo es um Maßnahmen zur Leistungssteigerung im DDR-Fußball geht, der erste Punkt aber folgendermaßen lautet: "eine Verstärkung der politisch-ideologischen Arbeit mit den Sportlern, Trainern und Funktionären und die damit im Zusammenhang stehende Klärung ideologischer Grundfragen der Leistungssteigerung im Fußballsport der DDR". Und obwohl manche Bilder in puncto technischer Qualität durchaus grenzwertig sind, so kommt es hier doch auf die Grundaussage und das Feeling sowie eben den Dokumentcharakter an. Weniger verzeihlich sind etliche Stockfehler wie etwa der abstruse Absatz mitten im Satz auf S. 101, die Tatsache, daß entweder der Autor oder der Lektor (oder beide) unter akuten dass/das-Verwechslungsbeschwerden leiden, und ein paar weitere kuriose Fehler wie die Nennung von drei Punkten für den Sieg über Österreich auf S. 72, obwohl damals und noch jahrzehntelang die Zwei-Punkt-Regel galt. Auch Kartes Bemerkung auf S. 139, ob die neuen Tagebauseen im Leipziger Südraum nach Widerstandskämpfern hätten benannt werden sollen, ist zwar sarkastisch gemeint, geht in diesem Fall aber an der Realität vorbei. Solche Probleme sollte man bei einer Zweitauflage zu eliminieren trachten (das Quellenverzeichnis darf auch ruhig noch ein bißchen exakter werden) - daß eine solche aufgrund guten Zuspruchs für dieses hochinteressante Buch erfolgt, bleibt ohne Wenn und Aber zu wünschen.

Uwe Karte: Montreal privat. Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2016. Festeinband, 192 Seiten, ISBN 978-3-7307-0301-4. 19,90 Euro. www.werkstatt-verlag.de






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