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Jan Kalbitzer: Digitale Paranoia. Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren
von ta anno 2016

Jan Kalbitzer: Digitale Paranoia. Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren

Jan Kalbitzers Buch klingt auf den ersten Blick interessanter, als es auf den zweiten ist - interessant ist es dennoch. Der Autor ist Psychiater an der Berliner Charité, forscht dort am Zentrum für Internet und seelische Gesundheit und "Digitale Paranoia" verspricht im Pressetext "Analysen und Fallbeispiele" zum Internetverhalten. Tatsächlich enthält das Buch vielleicht eine Handvoll Fallbeispiele aus der psychiatrischen Praxis und findet auch auf analytischer Ebene ein paar Niveaustufen unter wissenschaftlicher Arbeit statt. Es ist eher eine essayistische Sammlung verschiedener Vorurteile gegenüber dem Internet, die vom Autor mit einem tendenziell korrigierenden Blickwinkel kommentiert werden. Nur ein Beispiel: Ist ein Kind "internetsüchtig", seien nicht das Kind oder das Internet Verursacher der Sucht, sondern die Eheprobleme der Eltern, deren innerfamiliären Konsequenzen sich das Kind durch den häufigen Internetbesuch einfach nur geschickt entzieht (S. 168).
Derartige Korrektive ziehen sich durch das ganze Buch und machen seinen inhaltlichen Reiz aus. Kalbitzer fragt unterwegs zu den Korrektiven, was es mit uns macht, durch mobile E-Mail-Programme permanent verfügbar zu sein. In Facebook-timelines das ganze Leben unserer Freunde vorbeiziehen zu sehen. Oder im Schutz der Online-Anonymität übellauniger auftreten zu können, als es im Offline-Leben ginge. Und er fragt, welche Bedürfnisse unser Internetverhalten befriedigt.
Auf dieser Frage basiert sich der pädagogische Reiz des Buches. Denn um herauszufinden, welche Bedürfnisse wir mit bestimmten Verhaltensweisen bedienen, sind jedem der zwölf Kapitel Verhaltensexperimente hintenangestellt, die dazu dienen sollen, exakt diese Bedürfnisse herauszufiltern. Und zwar nicht für das allgemeine "wir", das ich eben verwende, sondern für den konkreten Leser oder die konkrete Leserin. Wer etwa unsicher ist, ob es ihm gut oder schlecht tut, dass er durch das Internet immer und überall für alle verfügbar ist, solle doch mal "bewusst besondere Orte für die Kommunikation mit bestimmten Personen" suchen, etwa "E-Mails [...] an unsympathische Kollegen an einem Ort, den Sie gut hinter sich lassen können" (S. 126). Wem diese Selbstbeschränkung gefällt, der solle seine Verfügbarkeit entsprechend strukturieren. Wem nicht, für den ist die permanente Verfügbarkeit vielleicht genau das Richtige.
Der Impetus des Buches ist am Ende also ein persönlicher: Lerne dich selbst an deinem Internetverhalten kennen. Und dann, aber erst dann, entscheide über gut oder schlecht.
Bücher von Wissenschaftlern, die an die breite Masse gehen, haben heutzutage häufig einen aufgesetzt humoristischen Stil, bedienen einen Schaut-mal-ich-kann-nicht-nur-trocken-Narzissmus ihres Autors. Kalbitzer entzieht sich angenehm konsequent dieser Versuchung. "Digitale Paranoia" liest sich fluffig und unterhaltsam, ist aber völlig unkomödiantisch, von Beispielen abgesehen, wo die geschilderte Realität selbst komisch ist. Kannten Sie das Experiment, bei dem eine finnische Sicherheitsfirma in ihre AGB zur Nutzung eines Wlan-Hotspots die Klausel einbaute, dass ein Nutzer des Hotspots sich einverstanden erkläre, sein erstgeborenes Kind der Firma zu überlassen? Und werden Sie nach diesem Experiment tatsächlich beginnen, AGBs aufmerksamer oder überhaupt zu lesen?
"Digitale Paranoia" bietet die Anleitung für einen konstruktiven Umgang mit solchen Internet-bezogenen Fragen und sei Personen mit hoher Online-Affinität ebenso wie Kritikern dieser Personen zur Lektüre empfohlen.

Jan Kalbitzer: Digitale Paranoia. Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren. München: C.H. Beck Verlag 2016. Klappbroschur. ISBN 978-3-406-69791-3. 208 Seiten. 16,95 Euro (E-Book 9,99 Euro). www.chbeck.de






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