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Werner Kaden: Musikkultur im Erzgebirge
von rls anno 2002

Werner Kaden: Musikkultur im Erzgebirge

Wohl niemand dürfte dem Autor widersprechen, wenn dieser das Erzgebirge als einen ganz besonders musikalischen Landstrich kennzeichnet und ihm einen eigenen Charakter und eine ganz besondere Ausstrahlung zuerkennt - am allerwenigsten der Rezensent, der nicht umsonst häufiger in erzgebirgischen Gefilden in musikliebhaberischer Mission unterwegs ist als in allen anderen Gegenden unseres schönen Freistaates, die räumliche Nähe Leipzigs oder auch Dresdens hin oder her. Trotz des gewissen Ausnahmestatus des Erzgebirges gebrach es bisher an einer zusammenhängenden Darstellung der musikalischen Kultur des Erzgebirges (die Musikwissenschaft konzentrierte sich bisher eben mehr auf die größeren Städte auf dem flachen Lande, auf die größeren Residenzen oder Handelsmetropolen; nur einzelne Aspekte der erzgebirgischen Musikkultur sind bisher verstreut publiziert wurden, entweder Spezialmonographien - beispielsweise über die Orgeln von Gottfried Silbermann - oder anderweitig spezieller Stoff wie die Forschungen Wolfram Steudes zur Hofmusik auf Schloß Weesenstein im 17. Jahrhundert, die auch in CD-Aufnahmen mündeten), und eben diese legt Werner Kaden nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Sujet nun vor. "Mut zur Lücke" ist das Stichwort, denn trotz der Möglichkeit einer zusammenhängenden Darstellungsweise müssen so viele Aspekte unbehandelt oder im kurz angerissenen Zustand verbleiben, daß vertiefende Publikationen in nahezu allen Richtungen möglich sind; Kadens Buch spürt also die Erzgänge auf, denen andere jetzt folgen können, um sie Schritt für Schritt abzubauen, nicht nur in thematischer, sondern auch in räumlicher Hinsicht, denn die angeführten Exempel konzentrieren sich auf den Raum zwischen Burgstädt und Gottesgab sowie zwischen Schneeberg und Olbernhau mit einzelnen Verweisen nach "außerhalb"; das komplette Osterzgebirge bleibt also beispielsweise noch zu untersuchen.
Der Autor nähert sich dem Themenkomplex über die "Folklore und volkstümliche Musik", die (neben der Hochkultur und der Kirchenmusik, für die beide Male wieder das Stichwort Silbermann herhalten muß) wohl die erste Assoziation bilden, wenn man die Begriffe "Musik" und "Erzgebirge" in Verbindung bringt. Kaden bewahrt dabei eine kritische Distanz zu alles andere als tiefgründigen Sendungen wie "Su klingt's bei uns in Arzgebirg'", arbeitete statt dessen jahrzehntelang in Archiven und förderte fundierte Erkenntnisse zutage, die er in akkurater, aber angenehm lesbarer Schreibe an den Leser bringt. In besagtem Folklorekapitel geht's dabei um die ganz frühen erzgebirgischen Weisen, aber auch das spätere Liedschaffen von Koryphäen wie Anton Günther oder Erich Lang, das teilweise längst zum puren Volkslied geworden ist (wer kennt den "Feierobnd" oder das "Raachermannel" nicht?).
Mit dem bergmännischen Singen und Musizieren befaßt sich das nächste Kapitel, bevor Kaden zur frühen Kirchenmusik (mit Kurrenden und Kantoreien) übergeht. Dabei wird überdeutlich, daß in der Musikausübung der vergangenen Zeit keineswegs alles Gold war, was glänzte; wohl nicht umsonst nahm beispielsweise die Kantorei Scheibenberg 1761 in ihre Grundregeln auf, daß bei Beerdigungen "kein betrunckener durch seinen taumelnden Gang Aergernis" verursachen solle. Die Entwicklung der Stadtmusik (von anfänglichen Stadtpfeifern bis hin zu den Stadtmusikchören) zeichnet Kaden in zwei Kapiteln nach und widmet sich dann der Kombination Musik und Theater (diese war ein Hauptgrund für das Entstehen der großen Orchester in Annaberg oder Chemnitz). Aber auch im "Breitensingen" tat sich Wichtiges für die erzgebirgische Musikpflege; den Musik- und Gesangsvereinen gehört deshalb ebenso ein Kapitel wie den Lehrerseminaren, an denen über lange Zeit ein obligatorischer Musikunterricht für einen zeitgemäßen Ausbildungsstand der Lehrer in Sachen Musik sorgte, den diese wiederum an ihre Schüler weitergaben (bzw. weitergeben sollten).
Die letzten drei Kapitel sind nicht mehr thematisch, sondern zeitlich untergliedert: Sowohl der nationalsozialistische Staat als auch die DDR nahmen umfangreichen Einfluß auf das erzgebirgische Musikleben, ohne ihm jedoch seine urwüchsige Lebendigkeit entziehen zu können. Das könnte allenfalls der bundesrepublikanischen Marktwirtschaft gelingen - man denke an Arbeitslosigkeit, Orchesterauflösungen, kulturellen (auch jugendkulturellen) Kahlschlag und Abwanderung. Aber das Erzgebirge und mit ihm seine Menschen werden auch diese Probleme zu meistern und konstruktiv in kreative Energie umzusetzen wissen. Kadens Schlußplädoyer hat somit seine vollste Berechtigung: "Wer also heute mit offenen Sinnen den Kulturraum Erzgebirge durchstreift, wird zwar nicht zu oft materialisierte Zeugnisse einer eigenständigen Musikkultur finden. Überall wird er jedoch einer lebendigen Musikpraxis begegnen, die nach wie vor die Metapher von einer klingenden, singenden Landschaft rechtfertigt und diesen Ruf auch weit über die Grenzen des Freistaates Sachsen hinausträgt."
Daß gerade die neuesten Entwicklungen noch nicht intensiv berücksichtigt wurden, mag man Kaden verzeihen (ihre musikgeschichtliche Einordnung und Aufarbeitung wird eh eine Aufgabe kommender Generationen bleiben), trotzdem hätte ich bei der neueren Kirchenmusik gern auch deren modernere Vertreter erwähnt gesehen (nicht umsonst hat das Erzgebirge die wohl höchste Dichte an christlichen Bands bundesweit); immerhin widmet sich der Autor aber dem Phänomen "De Randfichten" (an dieser Stelle alle im Chor: "Jaaaaa - er lebt noch!" - für die Unkundigen: der alte Holzmich'l ist gemeint; weitere Informationen auf dem nächsten Randfichten-Gig). Wenigstens ansatzweise hätte auch noch Silbermanns Orgelbau ins Buch gehört, denn die Frage, warum selbst kleine Gemeinden eine hochwertige und vergleichsweise teure Silbermann-Orgel bestellten, obwohl ihre musikalischen Protagonisten oftmals gar nicht in der Lage waren, das Instrument adäquat zu nutzen, hätte prima in den Kontext des Buches gepaßt. Apropos Silbermann: Dessen vierte Freiberger Orgel steht nicht in St. Nikolai, sondern in St. Jacobi. Aber genug des Gemeckers: Kadens Buch stellt eine unverzichtbare Lektüre für alle Musikfreunde dar, die dem Phänomen der erzgebirgischen Musikkultur auf den Grund gehen wollen, und wer nicht so viel lesen möchte, darf sich auf die knapp 200 Abbildungen stürzen, die den Text bestens unterstützen und wo interessantes Archivmaterial gleichberechtigt neben genauso interessanten, oft jedoch schon wieder vergessenen oder verdrängten Materialien der jüngeren Vergangenheit (z.B. dem Spielmannszug des VEB Leuchtenbau Lengefeld/Erzgebirge zu einer Demonstration um 1960) zu stehen kommt.

Werner Kaden: Musikkultur im Erzgebirge. Beiträge zur Musikgeschichte einer Region. Sächsische Landesstelle für Volkskultur, Schneeberg; Sächsischer Blasmusikverband e.V., Thum (Reihe Weiss-Grün; 26). Chemnitz: Verlag Heimatland Sachsen 2001. 192 Seiten. ISBN 3-910186-36-X. 19,95 Euro



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