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Andy Holzer: Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt
von rls anno 2010

Andy Holzer: Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt

Etwa 80% seiner Sinneswahrnehmungen erreichen das Hirn des Menschen auf dem Weg über die Augen, und daher wird der Verlust oder das Von-Anfang-an-Nichtvorhandensein des Augenlichtes von den Mitmenschen des Blinden immer besonders stark bedauert. Daß blinde Menschen in bestimmten Fächern, in denen Sehfähigkeit zweitrangig ist, sehenden Mitmenschen teils deutlich überlegen sind, weil sie die für diese Tätigkeiten benötigten Sinne zwangsweise stärker trainieren bzw. beanspruchen müssen, liegt andererseits auch auf der Hand. Das trifft beispielsweise auf das Musizieren zu, aber auch auf "Tastarbeit" wie die eines Masseurs.
Andy Holzer, Jahrgang 1966, Autor und Protagonist dieses autobiographischen Buches, ist von Geburt an blind, von Beruf Masseur, daneben leidenschaftlicher Hobbymusiker - also scheinbar ein Paradebeispiel für den typischen Blinden im Sinne des ersten Absatzes. Aber er ist zugleich etwas Besonderes: Er ist Bergsteiger. In Osttirol aufgewachsen, ging er nicht auf eine Blindenschule, sondern auf eine normale Schule, und wie selbstverständlich nahmen ihn seine Eltern auch auf Bergtouren mit, zusammen mit seiner älteren Schwester Elisabeth, die an der gleichen Krankheit wie er leidet (Retinitis pigmentosa), im Gegensatz zu ihm als Kind allerdings noch über eingeschränkte Sehkraft verfügte, die sie erst allmählich verlor. Andy dagegen mußte sich von Geburt an die Bilder zu dem, was er da hörte, roch und fühlte, selbst im Gehirn zusammenstellen, und darin erlangte er mit den Jahren derartige Fertigkeiten, daß er sich bald nicht mehr mit der Rolle des Nachsteigers zufriedengab, sondern auf Basis mündlicher Routenbeschreibungen eine Karte in seinem Kopf entwarf, diese beim Klettern (meist beim ersten Mal sicherheitshalber noch als Nachsteiger) fortwährend mit dem von ihm wahrgenommenen Teil der Realität abglich und somit auch als Vorsteiger agieren konnte. Und so unglaublich solche Leistungen für den Sehenden erstmal klingen (auch für den sehenden Bergsteiger, der die Chancen und Gefahren seiner Tätigkeit besser einschätzen kann als der "normale Mensch", der nichts mit Bergsteigen zu tun hat und jeden, der da irgendwo in einer senkrechten Wand hängt, wahlweise als Übermenschen oder als Verrückten ansieht): Für Andy Holzer war und ist das ein Zeichen der Normalität, und der integrative Aspekt, der in der Behindertenbetreuung von heute ja gern hervorgehoben und mal besser, mal weniger gelungen praktiziert wird, findet in ihm ein leuchtendes Beispiel, was für Leistungen möglich sind, wenn jemand mit entsprechenden Fähigkeiten das richtige Umfeld findet.
Holzers Umfeld erweiterte sich bald, als er mit verschiedenen Partnern auch andere Gebirgsstöcke als die in seiner engeren Heimat (letztere kannte und kennt er im Prinzip in- und auswendig) zu besuchen und zu durchklettern begann. Per Zufall lernte er mitten in einer Dolomitenwand Erik Weihenmayer kennen, einen blinden Bergsteiger aus den USA, und der führte ihn in eine andere Disziplin des Bergsteigens ein - das Höhenbergsteigen, in dem er selbst schon etliche Erfolge erzielt hatte. Und so begann Holzer 2005 mit der Ersteigung der Seven Summits, also der jeweils höchsten Erhebung jedes Kontinents; fünf der sieben hat er zum Rezensionszeitpunkt bereits geschafft, darunter 2006 den Elbrus, witzigerweise fast genau einen Monat vor dem (sehenden) Rezensenten, der sich im Gegensatz zu Holzer aber an die meisten der anderen Seven Summits nicht heranwagen wird. Und die Südwand des Preußturmes wird er sich auch sparen - im Gegensatz zu Holzer, der dort 2005 mit einer der wohl ungewöhnlichsten Seilschaften unterwegs war: Hugh Herr, beidseitig beinamputiert, als Vorsteiger, die Blinden Weihenmayer und Holzer als Nachsteiger. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, welche Höchstleistungen Menschen trotz gewisser Beeinträchtigungen vollbringen können - das ist er. Und schon allein aus dem Grund, dieses Faktum einmal an die Öffentlichkeit zu bringen und behinderte Menschen nicht nur als bedauernswerte Objekte darzustellen, ist dieses Buch wichtig. 2011 will Holzer übrigens auf den Everest, was Weihenmayer bereits geschafft hat - viel Erfolg! Viel Erfolg ist auch dem Buch zu wünschen, das man lesend förmlich verschlingt (auch die etwas "physiologischeren" Stellen, die weniger "actionreich" sind) und das noch durch einen kleinen Fototeil abgerundet wird. Reizvolles Detail und ein Zeichen, daß die Verleger Holzer gut verstanden haben: Autorenname und Haupttitel sind auf dem Schutzumschlag in Prägedruck vertreten - und zwar als normale Buchstaben, nicht als Braille-Schrift.

Andy Holzer: Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt. Mannheim: Walter Verlag 2010. 230 Seiten. ISBN 978-3-530-50613-6. 19,90 Euro






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