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Olaf Hintze/Susanne Krones: Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ
von rls anno 2014

Olaf Hintze/Susanne Krones: Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ

Ein Vierteljahrhundert ist es her, daß eine Bewegung, die mittlerweile als Friedliche Revolution bezeichnet wird, an den tönernen Füßen des Kolosses DDR rüttelte, so daß dieser in sich zusammenstürzte, auch wenn viele aus der besagten Bewegung das in dieser Form gar nicht wollten. Das 25jährige Jubiläum bildet natürlich den Anlaß, die Ereignisse des Jahres, besonders des Herbstes 1989 in allen möglichen und unmöglichen medialen Formen aufzuarbeiten, und neben zahlreichen Abklatschen und Aufwärmungen finden sich bisweilen tatsächlich auch noch einige originellere Aspekte bzw. Herangehensweisen, zu denen das vorliegende Buch zu zählen ist. Kurz zusammengefaßt erzählt Susanne Krones die Geschichte von Olaf Hintze, einem 1964 geborenen Erfurter, der mit steigender Unzufriedenheit zu kämpfen hatte und letztlich 1989 eine Republikflucht über Ungarn plante, die, das sei vorweggenommen, ihm auch gelungen ist. Das klingt an sich noch nicht sonderlich originell, aber es gibt einige pikante Details, die hier das Salz in der Suppe ausmachen.
Hintze entstammte einer zwar nicht oppositionell engagierten, aber sich so neutral wie möglich zu allen diktatorischen Regimes verhaltenden Familie. Schon als Kind entpuppte er sich als versierter Bastler im Elektro- und Elektronikbereich, so daß er es schaffte, in seinem Wohngebiet einen Radiosender zu installieren, mit dem seine Schulfreunde dann "Westmusik" hörten. Die Ausbildung zum Nachrichtentechniker bei der Deutschen Post kam seinen Neigungen somit durchaus entgegen, und die Armeezeit konnte er als Funker auch ohne größere Probleme überstehen. Allerdings weigerte er sich beharrlich, in die SED einzutreten, und somit wurde ihm nicht nur ein Studium verweigert, sondern auch für längere Zeit ein eher wenig erfüllender, sondern stupider und gefährlicher Job bei der Post zugewiesen. Hintze begab sich somit in eine Art innere Emigration, versuchte durch kulturelle Aktivitäten geistige Anregungen in einem als einengend empfundenen Klima zu gewinnen (wobei sich Stefan Zweig im allgemeinen und sein Buch "Die Welt von gestern" im speziellen als Kompaß herauskristallisierten) und beschloß letztlich, die DDR im Sommer 1989 über Ungarn, das seine Grenzkontrollen und -sicherungsanlagen zu Österreich im Frühjahr selbigen Jahres etwas entschärft hatte, zu verlassen. Mit drei Kollegen ging er zunächst im rumänischen Fagarasgebirge auf eine Wandertour, fuhr dann mit ihnen nach Bulgarien, wo die Tour mit einem Strandurlaub abgerundet werden sollte, verließ sie dann aber unter einem Vorwand, noch ehe er auch nur einmal im Schwarzen Meer geschwommen war, und begab sich nach Sopron an die ungarisch-österreichische Grenze. Kurioserweise brachte er es fertig, die einfache Gelegenheit, Mitte August beim Paneuropäischen Picknick gefahr- und problemlos zu fliehen, zu verpassen, indem er dessen Ankündigungsflyer nicht ernstnahm; statt dessen überkletterte er die hier und da schon etwas baufälligen Sperrzäune, wobei er beim ersten Mal von ungarischen Grenzsoldaten festgenommen, aber nicht an die DDR ausgeliefert, sondern in Sopron einfach kommentarlos wieder freigelassen wurde. Der zweite Überkletterungsversuch wenige Tage später an einer anderen Stelle gelang, und Hintze gelangte in einen Weinberg auf österreichischer Seite und von dort aus per Eisenbahn kurioserweise über Sopron (die Bahnstrecke führte über ungarisches Gebiet) nach Wien, später ins Zentrale Auffanglager für Flüchtlinge nach Gießen, von dort in die rheinland-pfälzische Provinz und schließlich nach München, was von Anfang an sein Ziel gewesen war und wo er noch heute lebt.
Susanne Krones arbeitet diese Geschichte nun nicht chronologisch auf, sondern nimmt die Trennung von den Kollegen in Bulgarien als Ankerpunkt und erzählt von dort aus in zwei Richtungen, einmal die laufenden Geschehnisse und einmal die abgelaufenen Geschehnisse in rückwärtiger Zeitstrahlrichtung. Das führt dazu, daß man genau lesen muß, um im großen Puzzle jedes Teil an die richtige Stelle zu setzen, und hier und da auch dazu, daß bestimmte Verhaltensweisen dem Leser zunächst noch unverständlich bleiben, weil er den Hintergrund hierfür erst später geliefert bekommt. Trotzdem hat diese scherenartige Struktur ihren Reiz (sie wird allerdings nicht ganz konsequent durchgehalten und in der Kindheit und Jugend Hintzes gelegentlich dann doch durchbrochen), weil man die Entwicklung des Protagonisten gewissermaßen mit einem Blick in sein Gehirn verfolgt, wo ja naturgemäß die jüngeren Erinnerungen überwiegend auch präsenter sind als die meisten Dinge aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Hintzes musikalisches Interesse liefert zudem die titelgebende Tonspur als Strukturelement, so daß jedes Kapitel den Titel eines Songs trägt, der zur betreffenden Zeit irgendeine besondere Bedeutung für den Erfurter hatte. Zur besseren Übersicht findet sich diese Tonspur am Buchende auch nochmal als Übersicht und demonstriert das vielseitige Interesse Hintzes nicht nur an damals zeitgenössischen Künstlern, sondern auch am Schaffen der vorherigen Generation, etwa Nancy Sinatras "These Boots Are Made For Walking". DDR-Bands sind keine dabei - die hörte in seiner Jugendzeit in seinem Umfeld niemand, und er interessiert sich noch heute allenfalls peripher für sie. Zu einer spezialisierten Randgruppe wie den Punks (in Erfurt u.a. mit Schleim-Keim) oder den Metallern (in Erfurt u.a. mit Macbeth) gehörte Hintze nicht; statt dessen faszinierte ihn parallel auch die Klassik, ausgelöst durch eine Aufnahme von Händels "Messiah", allerdings in der Buchstruktur nicht reflektiert. Seine verschiedenen kulturellen Passionen lebte er dann in München in vollen Zügen aus, und das ist auch der Teil, wo das Buch an Reiz verliert: Bis zu seiner ersten Etablierung in München ist die Schilderung enorm spannend, und man tut sich schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Aber die gebetsmühlenartigen und seitenlangen Aufzählungen und Schilderungen, wo Hintze im seither vergangenen knappen Vierteljahrhundert überall war und wen er wann wo und wie erlebt hat, ermüden den Leser dann relativ schnell - der Höhepunkt der Geschichte ist zweifellos mit der Ankunft des Flüchtlings in Wien überschritten, dann beginnt die Spannung abzuflauen, so daß der hintere Teil des Buches deutlich gestrafft hätte werden können. Inhaltlich einhaken möchte man nur an ganz wenigen Stellen, etwa bei der Aussage aus dem Jahr 1987, die Sowjetunion-Reise nach Alma-Ata sei nur auf offiziellem Wege realisierbar gewesen (die "Unerkannt durch Freundesland"-Bewegung scheint sowohl Hintze als auch Krones verborgen geblieben zu sein). Speziellen Reiz bekommt das Buch dann noch durch Abbildungen verschiedener historischer Dokumente, sei es das Visum für die 1989er Reise, eine große Anzahl von Kassettenbeschriftungen (die deutlich machen, daß Hintze in der DDR offensichtlich keinen Englischunterricht hatte) oder das Schreiben der Post mit einer Lohnrückforderung für den August 1989 an Hintzes Eltern. Auch bei längeren Zitaten (neben Hintze und Zweig kommen auch noch manch andere Menschen zu Wort) liest sich das Ganze meist flüssig, und wäre da nicht das geschilderte Problem mit der Zeit nach 1990 gewesen, man könnte das Buch eigentlich vorbehaltlos empfehlen. Die Frage ist nur, wer es lesen soll. Es erscheint in der Reihe Hanser bei dtv, die der Abteilung "Das junge Buch" zugeordnet ist. Die heutige Jugend wird vieles von dem Geschilderten mangels entsprechendem persönlichem Hintergrund allerdings kaum verstehen oder als hoffnungslos anachronistische Handlungsweisen und Gedanken ansehen (äußeres Zeichen hierfür ist schon die Audiokassette auf dem Cover) - die Zielgruppe dürfte sich somit eher aus Hintzes Generation oder der nachfolgenden (zu der auch der Rezensent gehört), die zumindest noch eine zweistellige Jahresanzahl an DDR-Erfahrung mitbringen, rekrutieren. Die wird das Buch trotz des derzeitigen Wende-Medien-Overkills aber durchaus mit Gewinn lesen.

Olaf Hintze/Susanne Krones: Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ. München: dtv 2014. 360 Seiten, broschiert. ISBN 978-3-423-65005-2. 14,95 Euro. www.dtv-dasjungebuch.de
 






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