www.Crossover-agm.de
Peter Hinrichs: Wacken. Ein Dorf wird Metropole und Marke
von ta anno 2012

Peter Hinrichs: Wacken. Ein Dorf wird Metropole und Marke

Probeweise habe ich vor dieser Rezension bei Amazon in der Büchersuche "Wacken" eingetippt, um einigermaßen überrascht festzustellen, dass bereits mehrere Bücher über das alljährliche Metalspektakel in Holstein geschrieben wurden. Die kurze und kurzweilige Betrachtung von Peter Hinrichs findet sich im Amazon-Ranking erst weit hinter Andreas Schöwes "Wacken Roll: Das größte Heavy Metal Festival der Welt" und Till Burgwächters "Die Wahrheit über Wacken" und dürfte ob ihrer sozialwissenschaftlichen Perspektive auch einzigartig sein. "Wacken. Ein Dorf ..." ist eine Fingerübung in moderner Raumsoziologie. Inhaltlich versucht sich Hinrichs insbesondere daran, die theoretische Vorarbeit von Henri Lefebvre und Martina Löw auf das Sujet "Wacken" anzuwenden; methodisch betreibt er (i) eine qualitative Inhaltsanalyse von 18 Erinnerungsberichten (deren Verfasser aus dem Bekanntenkreis des Autors stammen); (ii) eine qualitative Inhaltsanalyse von Interviews mit dem Bürgermeister Wackens, mehreren Einheimischen, einem Festivalbesucher und Veranstalter Thomas Jensen; (iii) eine Bildanalyse einer selbsterstellten und dem Buch angehängten Fotostrecke. Der Autor ist zudem selbst langjähriger Besucher des Festivals.
Fundamental zum Verständnis des Buches ist die Abgrenzung von Raum und Ort. Während es sich beim Ort Wacken um eine geographische Größe, nämlich einen Abschnitt der Erdoberfläche handelt, ist der Raum Wacken, um den sich Hinrichs' Buch dreht, eher eine semiotische Größe, die erst im Umgang von Menschen miteinander im Rahmen des W.O.A. entsteht. Betrachtet man Wacken wie Hinrichs als Raum, spielen weniger Grenzen und Landkarten als Atmosphäre und Alltagsflucht eine Rolle.
Der Autor testet diesbezüglich verschiedene Hypothesen am empirischen Material, die auf den Seiten 42ff. aufgestellt und auf den Seiten 124ff. sämtlich bejaht werden. Zwei dieser Hypothesen sollen hier vorgestellt werden, um einen Eindruck der Gangart des Buches zu geben.
Erstens, Wacken sei sozialer Raum, d.h. durch Feststellung von Dazugehörigkeit und Abgrenzung gekennzeichnet. Kriterien zur Feststellung von Dazu- oder Nichtdazugehörigkeit bilden Musikgeschmack und Lebenskultur, wobei der Autor für den Verlauf der Jahre, die das Festival existiert, eine immer stärker werdende Pluralität der Besucher konstatiert. Die von Hinrichs festgestellte Abgrenzung der "Veteranen" von den "Festivaltouristen" (S. 126) ist ein anschauliches Beispiel für den Konflikt zwischen "echten" und "unechten" Metallern, den man seit 20 Jahren und bis heute in jeder Ausgabe jedes größeren der einschlägigen Metal-Magazine zur Kenntnis nehmen kann.
Zweitens, Wacken sei eine Heterotopie, d.h. ein kultureller Illusionsraum an einem realen Ort. Die Diversität in der Herkunft von Musikern und Besuchern wird nivelliert zugunsten einer zeitlich auf wenige Tage begrenzten neuen kulturellen Identität. Wacken erfüllt hierbei die Rolle eines Urlaubsortes, der den Verlust von Authentizität im Alltag kompensiert.
Eins der interessantesten Ergebnisse des Autors wird nicht in einer eigenen These vorgestellt, soll hier jedoch genannt werden: Maßgeblich zur Atmosphäre Wackens trägt der Austausch von Metallern und Dorfbewohnern bei. (Die Veranstalter fördern diesen Austausch übrigens, indem jeder Dorfbewohner eine Festivalfreikarte erhält.) Dies macht Wacken auch unter den Metal-Festivals einzigartig.
Als Beitrag zur Raumtheorie ist das Buch von Hinrichs eher etwas für die Akademiker unter den Metallern; die Musik wird auf lediglich fünf Seiten des Buches - als "Außenwirkung [...], die eine Komponente der Atmosphäre ist" (S. 83) - eigens thematisiert. Die Ergebnisse des Autors überraschen hierbei nicht wirklich, da sie wohl jeder Festivalbesucher irgendwie aus eigener Erfahrung kennt. Unter dem speziellen Blickwinkel der Raumgestaltung betrachtet stellt "Wacken. Ein Ort ..." aber eine durchaus erhellende Lektüre dar. Auf ein paar mehr Treffer bei Amazon!

Peter Hinrichs: Wacken. Ein Dorf wird Metropole und Marke. Göttingen: Cuvillier Verlag 2011. 162 Seiten. ISBN 978-3-86955731-1. 27,60 Euro






www.Crossover-agm.de
© by CrossOver