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Matthias Herrmann: Kreuzkantor zu Dresden - Rudolf Mauersberger
von rls anno 2006

Matthias Herrmann: Kreuzkantor zu Dresden - Rudolf Mauersberger

Entsprechend seines Familiennamens wurde Rudolf Mauersberger tatsächlich im Erzgebirgsdorf Mauersberg geboren - anno 1889 angesichts der vergleichsweise geringeren Mobilität noch keineswegs ungewöhnlich, im konkreten Fall allerdings eher ein Zufall, denn Vater Oswald Mauersberger stammte aus dem benachbarten Mildenau und kam erst nach Mauersberg, als er an der dortigen Schule Lehrer wurde. Der nächste Zufall lauerte Jahre später: Rudolfs Wirkungsstätten vollzog sein jüngerer Bruder Erhard in Aachen und Eisenach originalgetreu nach - bis auf die letzte, denn Rudolf wurde 1930 Kreuzkantor in Dresden und blieb es bis zu seinem Tode 1971, während Erhard 1961 den Posten des Thomaskantors in Leipzig übernahm und nach Rudolfs Tod in der DDR keiner daran dachte, dem auch schon 68jährigen Erhard das Kreuzkantorat zu übertragen. Aber ab 1961 hatte sich der weitere Zufall ergeben, daß zwei Brüder die beiden renommiertesten Knabenchöre der seinerzeitigen DDR (deren Bedeutung weit über diese hinausstrahlte), eben den Leipziger Thomanerchor und den Dresdner Kreuzchor, leiteten. War das allerdings wirklich Zufall? Schließlich kamen beide Brüder aus der alten erzgebirgischen Kantoren- und auch Frömmigkeitstradition, deren Quell auch zu DDR-Zeiten nie trockengelegt werden konnte, während die staatlich angestrebte Entkirchlichung des Volkes auf dem platten Lande weitreichende Erfolgserlebnisse erzielt hatte. Hätte man um die Mauersbergers herumkommen können, als es an die Besetzung der Leipziger Stelle bzw. um den Wiederaufbau des durch die Angriffe vom Februar 1945 dezimierten und in seiner Wirkungskraft stark eingeschränkten Kreuzchors unter seinem alten Leiter ging? Eine Frage, der nachzugehen lohnen würde.
Diese und viele andere Fragen kann Matthias Herrmann in seiner Biographie über Rudolf Mauersberger nur anreißen. Das hat schlicht und einfach platztechnische Gründe, denn 112 Seiten sind, wenn man ein überreiches Leben wie das Rudolf Mauersbergers schildern will, schnell gefüllt. Herrmann wählt dabei nicht die gängigste Form der biographischen Schilderung, also die mehr oder weniger chronologische, sondern teilt seine Abhandlung in Sachgebiete ein, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat. Wer sich also beispielsweise speziell für Mauersbergers Kompositionen interessiert, bekommt im Sachgebiet "Kompositionen" alles komprimiert, was er sucht, ohne sich diese Informationen aus einzelnen Kapiteln zusammenstückeln zu müssen. Andererseits bedingt diese Form einige Doppelschilderungen und Überschneidungen, da beispielsweise die einzelnen Kompositionen natürlich auch im Sachgebiet "Stationen", das einer kleinen "Biographie in der Biographie" nahekommt, eine Rolle spielen und dort zumindest ansatzweise schon behandelt werden müssen, um den Leser nicht in eine informationstechnische Lücke zu stürzen oder ihn mit einem umfangreichen Verweisapparat zu wildem Hin- und Herblättern zu zwingen. Einleitend und nutzbringend plaziert wurde eine Zeittafel für den primären Überblick (da liest der nur zwei Steinwürfe von Bad Lausick entfernt wohnende Rezensent doch mit Schrecken, daß Mauersberger 1915 bis 1918 Militärkapellmeister in ebenjenem Bad Lausick war, woran hier in der Region aber so gut wie keine Erinnerung mehr zu bestehen scheint). Dem erwähnten Sachgebiet "Stationen" folgt ein mit "Wirkungsfelder" überschriebenes, das sich mit dem speziellen Verhältnis Mauersbergers zu bestimmten Aspekten seiner Arbeit befaßt: der Pflege des Werkes von Johann Sebastian Bach und von Heinrich Schütz, der Kooperation mit Dresdner Orchestern und dem Engagement für zeitgenössische Chormusik. Besonders für die Wiederentdeckung des Schützschen Werkes und die Aufführung zeitgenössischer Chorwerke erwarb sich Mauersberger bleibende Verdienste; letztgenannten Aspekt setzte er auch über politische Restriktionen hinweg durch, wenn er etwa in der Zeit des Nationalsozialismus Werke von Hugo Distler oder Günter Raphael aufführte, obwohl ersterer zumindest bei Teilen der Mächtigen unter den Terminus "entartete Kunst" fiel und zweiterer als Halbjude Berufsverbot hatte. Selbst Mendelssohn, der machtseitig völlig verpönt war, fiel nicht komplett aus den Programmen, sondern tauchte zumindest versteckt in diversen Zugabeteilen auf. Damit sind wir eigentlich schon im nächsten Sachgebiet, "In zwei deutschen Diktaturen" betitelt und sich mit Mauersbergers Haltung im Nationalsozialismus (er war seit 1933 NSDAP-Mitglied und hatte auch den einen oder anderen Gedankengang mit übernommen, bewahrte aber so weit wie möglich Freiräume für sich und seine Choristen und dachte prinzipiell alles andere als linientreu) und in der DDR (wo die Aufgabe, Freiräume zu bewahren, ein weiteres Mal vor ihm stand, diesmal aber durch die Wiederaufbaumaßnahmen ergänzt) befassend. Obwohl er städtischer Angestellter war, gelang es trotz dieser kritischen Haltung in beiden Systemen niemandem, ihn einfach abzusägen; erst sein Tod 1971 ermöglichte der Dresdner Stadtverwaltung, etwas stärkeren Einfluß auf den Kreuzchor auszuüben, wenngleich dessen Status dank Mauersberger auch international so gefestigt war, daß man schwerlich daran gehen konnte, ihn zum sozialistischen Ensemble umzuformen. Nicht zuletzt wären da die Dresdner selbst not amused gewesen, gehörte doch die von Mauersberger geschriebene "Christvesper der Kruzianer" RMWV 7, deren erste Bestandteile bereits 1927, also vor seiner Dresdner Zeit, komponiert worden waren, seit Jahrzehnten zu den festen Bestandteilen des Weihnachtsfestes für so viele Einwohner, daß die Kreuzkirche regelmäßig vor Überfüllung zu bersten drohte - die Nachfolger Mauersbergers haben diese Tradition folglich auch beibehalten. Damit sind wir schon mitten im bereits genannten Sachgebiet "Kompositionen", das sich neben der Christvesper an zentraler Stelle dem kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen "Dresdner Requiem" widmet. Detaillierte Werkanalysen sind in diesem Sachgebiet nicht zu erwarten, wie sich überhaupt das komplette Buch weniger ans Fachpublikum als vielmehr an den allgemein kulturell und vielleicht speziell an Sachsen, an Dresden, am Chorwesen o.ä. Interessierten wendet. Dieser findet im Sachgebiet "Mauersberger-Stätten" dann noch einen kleinen Reiseführer (ohne Karte allerdings) zu Orten, wo man heute noch Rudolf Mauersbergers Erbe begegnen kann. Neben Dresden ist da vor allem Mauersberg selbst zu nennen, wohin sich der Chorleiter immer wieder gern zurückzog, wo er auch kompositorisch sehr produktiv sein konnte und wo er die besonders schweren Wochen nach dem Angriff auf Dresden 1945 verbrachte. In Mauersberg findet man heute das Mauersberger-Museum, das sich neben Rudolf auch seinem Bruder Erhard widmet, sowie die Kreuzkapelle auf dem Friedhof, die Rudolf aus dem mit dem 1950 verliehenen Nationalpreis der DDR verbundenen Geld finanzierte und die er im Stile einer alten erzgebirgischen Wehrgangkirche, wie sie beispielsweise im benachbarten Großrückerswalde noch erhalten ist, errichten ließ.
Daß Matthias Herrmann als Autor Ahnung von der Materie hat, erschließt sich schon beim Lesen seiner Vita: Er war nicht nur Kreuzchormitglied unter Rudolf Mauersberger, sondern hat auch seine Habilitationsschrift über Mauersbergers Kompositionen verfaßt und nicht nur zahlreiche Noten von Mauersbergers Werken, sondern auch dessen Werkverzeichnis herausgegeben. Der Anhang bietet neben einer Kurzfassung des Werkverzeichnisses eine Auswahldiskographie (die 1964er Einspielung "Weihnachten mit dem Dresdner Kreuzchor", 1994 unter dem Titel "Die schönsten Weihnachtslieder" mit einem gräßlichen "Artwork" als CD wiederveröffentlicht, ist immer noch die Weihnachtsplatte, die der Rezensent am allerliebsten hört) und ein Auswahlverzeichnis der Notenausgaben; was schmerzlich vermißt wird, ist ein Literaturverzeichnis, um sich bei Interesse weiter in einzelne Fragestellungen, die aufgrund des erwähnten Platzproblems nicht tiefergehend behandelt werden konnten, vertiefen zu können. Zwar kann man sich aus den Fußnoten einiges an Literaturangaben herausziehen, aber da wäre eine schöne kommentierte Bibliographie die bessere Lösung gewesen. Dafür entschädigt aber das Bildmaterial, dessen bisweilen altersbedingt eingeschränkte technische Qualität durch die Aussage mehr als aufgewogen wird (siehe als Exempel für diese These das Foto von der Christvesper 1942 auf S. 74, das laut Bildlegende übrigens nicht in der Kreuzkirche, sondern in der Frauenkirche aufgenommen worden sein soll); auch am Schreibstil Herrmanns gibt es nichts zu meckern, und daß der eine Leser wohl an dieser, der andere aber an jener Stelle wenigstens einen kurzen Tiefschürfmoment vermißt, liegt in der erwähnten Natur der Sache und beweist, daß es der Autor geschafft hat, eine recht ausgewogene Darstellung zu verfassen - die richtig große Mauersberger-Biographie, vielleicht gar eine doppelte unter Einbezug Erhards, kann ja irgendwann mal noch folgen. Solche Biographien wie die hier vorliegende sollten zu Tausenden oder Zehntausenden gelesen werden und nicht etwa die von Daniel Küblböck.

Matthias Herrmann: Kreuzkantor zu Dresden - Rudolf Mauersberger. Schriften des Mauersberger-Museums in Mauersberg 1. Mauersberg 2004. 112 Seiten. ISBN 3-00-015131-1. Zu beziehen über Fax 0351-2641339, Mail mauersbergerbuch@web.de oder Mauersberger-Museum@web.de (14,90 Euro plus VK)






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