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Bernd Harder: Pater Pio und die Wunder des Glaubens
von rls anno 2003

Bernd Harder: Pater Pio und die Wunder des Glaubens

Kaum ein CrossOver-Leser wird ihn noch leibhaftig erlebt haben: Pio von Pietrelcina, Pater des Kapuzinerordens, 1968 verstorben und in erstaunlichem Tempo (das nur noch vor kurzer Zeit von Mutter Theresa überboten wurde) selig und heilig gesprochen. Zur Heiligsprechung anno 2002 soll eine siebenstellige Zahl Menschen den Petersplatz bevölkert haben - Rekord.
Wer war nun dieser Mann? Zahlreiche Biographien liegen vor, und zudem ist er längst eine Art "Volksheiliger" geworden, über den ähnlich viele Geschichten kursieren wie über Franz von Assisi, mit dem Pio auch noch eine andere Gemeinsamkeit besaß: Er war stigmatisiert, und zwar mit fünf Wunden, deren Lage ungefähr denen des gekreuzigten Christus entsprach. Bis heute ist die Ursache dieser Stigmatisierung nicht einwandfrei geklärt, weder bei Franz noch bei Pio. Pio selbst galt zeitlebens als ein großer Mystiker, der seinen zahlreichen Besuchern und Beichtkindern tief ins Herz sehen konnte (und letztgenannte auch schon mal reihenweise wieder nach Hause schickte, wenn er erkannte, daß sie in Wahrheit nicht bußfertig waren) und zudem zur Bilokation fähig gewesen sein soll. Speziell die beiden letztgenannten Eigenschaften sorgten dafür, daß seine Anhängerschaft ihn fast kritiklos verehrte, ihn gegen alle Angriffe in Schutz nahm und ihn gleichzeitig so bedrängte, daß er sich immer wieder gezwungen sah zu erklären, daß er selbst keine Wunder wirken könne, sondern daß das allein Gottes Vorrecht sei und er quasi nur als Medium für das Wunder diene. Liest man einige der Biographien, erkennt man schnell, daß sich die Anhängerschaft diese Einschränkung nur bedingt zu Herzen nahm.
Bernd Harder geht anders vor. Seine biographische Skizze über Pater Pio argumentiert vielseitig und quellenreich (wenn auch letzteres nicht durchgängig), enthebt sich selbst vom religiösen Entdeckerwahn und nähert sich der Gestalt Pios sowohl mit der gebotenen Vorsicht als auch mit der nötigen Begeisterung und dem Sinn für Pios Tun. Harder schreibt für ein Publikum, das sich auch außerhalb streng katholischer Kreise bewegt, und setzt das Erklärungslevel theologischer Phänomene daher etwas einsteigernäher an. Damit beschränkt er sich auch keinesfalls auf eine Pio-Biographie, sondern geht noch anderen Pseudo- oder realen Wundern aus der katholischen Welt nach, von denen einige in Beziehung mit Pio stehen (so z.B. das naturwissenschaftlich noch relativ leicht erklärbare "Wunder" der nicht verwesenden Leichen, von denen einige der bekannteren künstlich einbalsamiert, also mumifiziert wurden - so auch Pio selbst - und andere aufgrund günstiger Umweltbedingungen einem natürlichen Mumifizierungsprozeß unterlagen), andere aber wiederum keine Beziehung zu Pio aufweisen. Unter letztgenannte Kategorie fallen z.B. die Marienerscheinungen (über die es längst eigenständige Spezialliteratur gibt) oder aber das berühmte Turiner Grabtuch. Dessen Kapitel geht Harder mit einer ganz besonderen Technik an. Er schreibt es kurzerhand doppelt, einmal aus der Sicht eines Befürworters und einmal aus der Sicht eines Kritikers der Echtheit der Reliquie. So muß er selbst keine Entscheidung treffen und kann seine Meinung scheinbar außen vor lassen, ob das Tuch nun echt ist oder nicht. Warum scheinbar? Nun, paradoxerweise ist das Pro-Kapitel so aufgebaut, daß es an vielen Stellen eher den Skeptikern argumentative Nahrung gibt. Der wichtigste Absatz des ganzen Buches (der auch auf andere Phänomene dieser Art und selbst auf Pater Pio ausgedehnt werden kann) steht in diesem Zusammenhang auf S. 142: "Das Grabtuch ist nicht Christus selbst, sondern nur ein Hinweis auf ihn. Nicht das Bild wird angebetet, sondern der wahre Gott, der hinter allen Bildern steht und in Wahrheit bildlos ist. Die Verehrung des Turiner Grabtuchs hat nicht dem Stück Materie zu gelten, sondern dem erhöhten Herrn Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Sohn Gottes, und daher braucht kein Glaubenskrieg um die Echtheit des Leinens geführt zu werden."
Harders Schreibe liest sich sehr leicht, gleitet aber trotzdem nicht ins Banale ab und verhilft diesem Buch daher eindeutig zum Prädikat "lesenswert", auch wenn es sowohl Pios Biographie als auch die Wunderphänomene nur anreißt und daher eine weitere Einarbeitung in die Thematiken nur mittels des (gut strukturierten) Literaturverzeichnisses oder aber mittels des "Reiseführer"-Kapitels (das den Weg sowohl zu Pios Wirkungsstätten als auch zu den anderen "Wunderorten" weist) möglich ist. Leider geht diversen der im Literaturverzeichnis genannten Publikationen aber Harders wissenschaftlicher Anspruch zugunsten einer theologisch-religiösen Verklärung verloren, so daß der denkende Leser bei diesen ähnliche Kämpfe wird durchstehen müssen wie der Mönch Pio in seiner Zelle. Harders Buch dagegen ist gute Einstiegslektüre, mehr nicht - aber mehr sollte es wohl auch nicht sein.

Bernd Harder: Pater Pio und die Wunder des Glaubens. München: Pattloch 2003. ISBN 3-629-01658-8. 240 Seiten. 14,90 Euro






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