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Peter Handke: Spuren der Verirrten
von mh anno 2007

Peter Handke: Spuren der Verirrten

Nur in seltenen Augenblicken des Lebens, meist in lebensbedrohlichen Situationen, stellen sich Menschen existentielle Fragen. Dann, wenn sich "der Fußboden auftut", die Zeit still zu stehen scheint und das bisherige Leben blitzschnell vorbeizieht, sind wir auf der Ebene, von der Peter Handke in seinem neuen Buch aus schreibt.
Es scheint, als habe ihn das blanke Entsetzen über die Vergänglichkeit des Menschen gepackt.
Die im Buch geäußerten Gedanken sind, wie beim Theater, in Auftritte geordnet.
Es sind oftmals Paare, die miteinander kommunizieren, austauschen. Manchmal kommt ein Dritter, meist Zwischenrufer ins Spiel. Dadurch wird Spannung aufgebaut. Es wird hinterfragt, festgestellt: "Das Grün grünt nicht mehr. Die Stille stillt nicht mehr. Die Herzen herzen nicht mehr."
Eine nachdrückliche Frage stellt der Autor auf der Rückseite des Buches: "Unsere Spuren - wären sie aufgezeichnet: was für ein Bild würden sie wohl ergeben?"
Den Ansatz einer Antwort legt er einem Protagonisten in den Mund. Dieser erzählt, daß während seiner Abwesenheit ein Rotkehlchen, wahrscheinlich durch den Kamin, ins Haus flog. Dem Hausbesitzer bot sich beim Heimkommen ein großes Durcheinander. "Federn lagen überall zerstreut zwischen den zu Boden gefallenen Büchern, Gläsern, Geräten. Dann fand ich den dazugehörigen Vogel unter einem Tisch, längst tot."
Spuren sind nicht immer buchstäblich. Sie ritzen sich in das Gedächtnis und das Gefühlserleben ein, sie vergehen nicht unbedingt mit dem Tod. Sie erscheinen einem Unbekannten vielleicht als sinnlose Schritte, die natürlich zu keinem Ziel führen konnten. Es stellt sich in dem Zusammenhang die Frage, ob der Verursacher der Spuren an einen möglichen Betrachter dachte und bemüht war mit seinen Spuren etwas auszudrücken.
Glücklich muß derjenige sein, der im sicheren Sessel sitzend, diese Erfahrungen in Handkes Buch lesen darf. Wenn er die Zeilen "richtig" deuten kann, ist er Nutznießer und Teilhaber an Fabulierungen, die ihn im günstigen Fall zum Nachsinnen über das eigene Leben anregen und ihm selber wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen wären.
In diesem Sinn ist das Buch "Spuren der Verirrten" ein Katalysator. Dieser funktioniert, unerbittlich wie eine Geburt, ist nicht als liebevoll, streng oder unbequemer zu werten, wird aber zweifelsohne von einigen Lesenden so empfunden.
Gallebitter, wenn der eine Kranzträger dem anderen mit einem Blick auf den Verstorbenen gesteht: "Sein Sterben hat mir den Tag gerettet, den einen wenigstens. Ah, stürbe er doch weiter, weiter und weiter. Immerzu könnte ich seinem Zähneknirschen zuhören, seinem Aufbäumen zuschauen. Und dabei an mich denken. Mich fühlen, endlich einmal."
Interessant die Argumente, die Gedanken, wenn man es versteht, auch zwischen den Zeilen zu lesen.
Nicht zu leugnen besteht natürlich dabei die Gefahr, dem Autor Gedanken unterzuschieben, die er in einem anderen Sinn verstanden haben will. Nicht immer passen Leser und Schreiber zusammen. Obwohl der Name des Autors die Lesenden neugierig darauf machte, ob endlich ein Gleichdenkender gefunden sei. Es bestünde somit die Möglichkeit, in dessen Texten Lösungsvorschläge zu finden. Wofür auch immer.
Gefühle sind es, die Handke als Betrachter analysiert, dem Lesenden die Möglichkeit gibt intim mitzuempfinden. Wie fühlt sich ein Mensch, der einen anderen küssen will, dessen Hand sich in die eines anderen Menschen nestelt und dann weggeschlagen wird?
Eine tatsächliche Antwort gibt Handke nur indirekt, indem er die Personen teilnehmend und hinterfragend reagieren läßt. "Ich lasse dich nicht allein", ist die tröstliche Grundaussage eines Mannes zu seiner Frau. Dieser beschreibt die schlimmen Situationen, die beide meisterten. Sie hinterfragen, ob die momentane Verlassenheit das Ziel sei. "Ja", läßt Handke einen Dritten resümieren.

"Spuren der Verirrten" von Peter Handke ist im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, erschienen, hat 88 Seiten und ist unter der ISBN 3-518-41854-8 in jeder Buchhandlung erhältlich.






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