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Iris Hadbawnik: Mythos Mount Everest. Ein Berg wird erobert
von rls anno 2014

Iris Hadbawnik: Mythos Mount Everest. Ein Berg wird erobert

Natürlich ist der Mount Everest kein Mythos - er ist real und steht da mehr oder weniger gemütlich im Himalaja herum, um ein paarmal im Jahr Besuch zu empfangen, in letzter Zeit durchaus häufiger als noch im 20. Jahrhundert. Aber er ist vom Meeresspiegel aus gesehen nun mal die höchste Erhebung der Erde, dazu bei den einheimischen Völkerschaften tatsächlich mit mythischem Inhalt belegt (sein tibetischer Name Tschomolungma heißt nicht umsonst "Göttinmutter der Erde"), wenngleich nicht mit dem Status eines der aller-allerheiligsten Berge, denen man deshalb nicht aufs Dach steigen darf. Und in der westlichen Hemisphäre, aus der all die Menschen kamen, die ein halbes Jahrhundert lang um die Erstbesteigung des Everest rangen, hat sich während dieser Ringeperiode mancherlei Mythos um den Berg gesponnen. "Der Mythos des 20. Jahrhunderts" könnte man das nennen, wenn da in den 20er Jahren Alfred Rosenberg, der spätere Chefideologe der NSDAP, sein inhaltlich völlig anders gelagertes Hauptwerk nicht so betitelt hätte. Zum Everest würde der Titel jedenfalls mindestens ebensogut passen: Der Nordpol und der Südpol waren bereits Anfang des 20. Jahrhunderts nominell erreicht worden (daß weder Robert Edwin Peary noch Frederick Albert Cook auch nur in die Nähe des Nordpols gekommen waren, stellte sich erst viele Jahrzehnte später heraus), und so blieb als Extrem-Ziel der Wagemutigen nur noch "der dritte Pol", wie noch Dmitri Meschtschaninow sein Buch über die 1982er Erstbegehung der immens schwierigen Route über den Südwestpfeiler durch eine sowjetische Mannschaft nannte. Erstaunlicherweise bildeten sich im Himalaja dann allerdings gewisse "Länderclaims" heraus: Die Deutschen beispielsweise konzentrierten sich auf den Kangchendzönga und später hauptsächlich auf den Nanga Parbat, wo ein Großteil der deutschen Bergsteigerelite der 30er Jahre ums Leben kam, was die Stilisierung dieses Berges zum "Schicksalsberg der Deutschen" machte. Der Everest hingegen war und blieb die Domäne der Briten, bis 1952 in der Nachmonsunzeit überraschend die Schweizer eine Besteigungsgenehmigung vom nepalesischen Herrscher bekamen. Raymond Lambert und Tensing Norgay scheiterten bei 8500 m, aber ihre Erfahrungen halfen wiederum der britischen Vormonsun-Expedition von 1953, die letztlich mit einem Erfolg endete. Als Treppenwitz der Geschichte waren die beiden Erstbesteiger keine Briten, sondern der Neuseeländer Edmund Hillary und der Nepalese Tensing Norgay, was ungeahnte Folgen haben sollte, und zwar in positiver (die Beflügelung des Selbstbewußtseins der Himalajavölker) wie negativer (gewisse Übersteigerungserscheinungen dieses Selbstbewußtseins) Hinsicht. In den Folgejahrzehnten wurde der Berg auf verschiedenen anderen Routen bestiegen, zum Teil immens schwierigen (und in der Ostwand harren immer noch gewisse Problemzonen auf die Extremen von heute), und zudem begannen Puristen, ihn auch ohne Sauerstoffzufuhr zu besteigen. Bald entwickelte sich auf den beiden Normalwegen allerdings eine Art Autobahnverkehr mit allen wiederum positiven wie negativen Auswirkungen, die dieser mit sich bringt: Mehr Touristen bedeuten natürlich mehr Einkommen für die nicht eben im Geld schwimmenden Einheimischen, aber sie potenzieren ebenso natürlich auch die Auswirkungen auf die Umwelt und das Müllproblem - und sie machen den Weg gefährlich: Ähnlich wie auf der "Todesautobahn" A72 zu DDR-Zeiten ist Überholen nämlich kaum möglich, und so kommt es regelmäßig zu Staus - und was das in über 8000 Meter Höhe bedeutet, kann in letzter Konsequenz wohl nur derjenige einschätzen, der selber Erfahrung im Höhenbergsteigen hat: Man bleibt stehen, und man beginnt sofort nicht etwa auszuruhen, sondern "einzurosten" und auszukühlen, die Dehydrierung geht mit unverminderter Intensität weiter, der Sauerstoffvorrat nimmt ab, und man verbringt letztlich viel mehr Zeit in der sogenannten Todeszone über 8000 Meter, als wenn man eine leere Autobahn vor sich hätte, und gerät zudem in Gefahr, den Abstieg nicht mehr bis zum Einbruch der Dunkelheit zu schaffen. So ist die prozentuale Todesrate am Everest zwar nicht die höchste aller vierzehn Achttausender (den Rekord hält die Annapurna vor dem K2), aber in absoluten Zahlen sterben am Everest mehr Menschen als an jedem anderen asiatischen Berg, wohingegen aber auch die Zahl der erfolgreichen Besteigungen höher ist als an allen anderen Achttausendern und sicher auch Siebentausendern.
Das 60jährige Erstbesteigungsjubiläum des Berges anno 2013 hat die Journalistin und, nein, nicht Bergsteigerin, aber Langstreckenläuferin Iris Hadbawnik zum Anlaß genommen, das vorliegende Buch zu schreiben. Der Titel läßt erstmal mehrere Deutungen über die letztliche Stoßrichtung zu, von reiner Philosophie bis zum 374. Nacherzählung der Besteigungsgeschichte. Diese beiden Komponenten finden sich dann tatsächlich auch im Buch wieder, aber sie stehen nicht im Fokus. Denn ist man erstmal auf S. 86 angekommen und hat den Teil mit der Besteigungsgeschichte samt einiger philosophischer Überlegungen hinter sich, beginnt das Buch seinen eigentlichen Eigenwert zu entfalten: Es porträtiert Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - zum Everest wollten, und es schwenkt zur Hauptliebe der Autorin über, nämlich den Extremsportarten, von denen man im Everestgebiet auch einige ausüben kann, vom Marathonlauf bis hin zum Langstreckenschwimmen im Lake Pumori auf 5300 Meter Höhe im 1,7°C "warmen" Wasser. Und diese hinteren zwei Drittel des Buches stellen sich schnell als äußerst lesenswert heraus, wobei zu ihrem Verständnis das vordere Drittel allerdings durchaus nützlich ist und damit durchaus auch seine Daseinsberechtigung hat, wenngleich man diverse der Faktensammlungen in ähnlicher Form auch bei Wikipedia oder in mannigfachen anderen Quellen nachlesen kann, sie sich dann aber eben selber zusammensuchen muß und Hadbawnik zudem diese Fakten wie auch die Porträts in eine sehr angenehm zu lesende Sprache gegossen hat. Einige der Porträts sind in Interviewform gehalten, andere in Prosa verfaßt, und die ausführliche Story über Familie Studer aus Österreich, die im 12. Versuch anno 2010 dann doch noch auf den Gipfel gelangte (und damit die erste Familie ist, der das gelang), wird gerade manchen Leser der Alpenvereins-Mitgliederzeitschrift Panorama interessieren, denn dort war unlängst gerade ebenfalls ein Porträt über Wilfried Studer zu lesen, aber aus einem völlig anderen Blickwinkel, nämlich seine heutige Tätigkeit als Hüttenwirt beleuchtend. Und so geschieht es auch dem bergliteraturerfahrenen Leser öfter: Man liest Dinge, die man schon weiß, bekommt aber Zusatzinformationen oder eine andere Deutungsrichtung dazu. Und dann wäre da noch die reichhaltige Bebilderung, die es dem Höhenbergsteiger unter den Lesern eigentlich nahelegt, sofort mit zusätzlichem Training zu beginnen, um in einem der nächsten Jahre für den Everest fit zu sein. Wem er zu überlaufen ist, der kann ja immer noch auf einen anderen Achttausender ausweichen - wobei Hadbawnik auch hier einiges Interessantes in der Hinterhand hat: Obwohl die absolute Zahl der Besteigungen relativ hoch liegt, waren bis 2012 beispielsweise gerade einmal 60 Deutsche auf dem Everest gewesen, wohingegen man angesichts des gängigen medialen Bildes über die Überlaufenheit eine deutlich höhere Zahl anzunehmen geneigt ist. Und auch der eingangs erwähnte "Müllberg" findet eine Relativierung: Das, was die diversen Müllbergungsexpeditionen in den letzten Jahren abtransportiert haben, war hauptsächlich Müll aus vergangenen Jahrzehnten - heutzutage sind die Expeditionen einem strengen Regulatorium unterworfen. Das Problem verlagert sich also eher auf die Trekkingrouten weiter unten im Tal - aber die dortigen Dörfer profitieren vom Everest-Müll noch auf eine ganz andere, paradox anmutende Weise: Die vom Berg abtransportierten Exkremente der Bergsteiger haben sich als brauchbarer Dünger für die lokalen Landwirte entpuppt ... So rundet sich das Bild von einem interessanten Buch, das der zahlreichen Everest-Literatur eine zwar nicht gänzlich neue, aber doch äußerst lesenswerte Facette hinzufügt.

Iris Hadbawnik: Mythos Mount Everest. Ein Berg wird erobert. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2013. 224 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-7307-0007-5. 19,90 Euro. www.werkstatt-verlag.de
 






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