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Gotthard Fermor: Ekstasis
von *tf anno 2003

Gotthard Fermor: Ekstasis

Das religiöse Erbe in der Popmusik für kirchliche Fragestellungen und Handlungskonzepte sichtbar und nutzbar zu machen, ist eines der Hauptanliegen von Fermors Buch, das speziell die Betonung ekstatischer Phänomene in musikalischen Gebrauchszusammenhängen im Blick hat. Auf knapp 250 Seiten geht der Autor nachvollziehbare Wege über terminologische Eingrenzung, Wahrnehmung empirischer Tatbestände, Ansätze analytischer Deutung und kritischer theologischer Bestandsaufnahme. Weitere fünfzig Seiten widmen sich einer ausführlichen Bibliographie zum Themenkreis, die der Übersicht halber nochmals systematisch unterteilt ist. Schon für diese Zusammenschau gebührt dem Autor aufrichtiger Dank.
Doch zurück zur Ekstasis. Der Beginn des Buches gibt dem Popmusiker christlicher Prägung Bestätigung, macht ihn neugierig und ernüchtert zugleich. Da ist von "Wahrnehmung von praktizierter Popmusik in der Kirche" die Rede, kommt das "religiöse Potential sogenannter säkularer Popmusik" in den Blick gefolgt von Fermors These, dass das "religiöse Erbe in der Popmusik [...] von christlicher Popmusik [...] nicht erreicht wird". Spätestens hier - und wir befinden uns erst auf Seite 14 der Lektüre - wird dem kritischen Zeitgenossen klar, dass Fermor nur das religiöse Potential bestimmter Popmusik im Blick hat: nämlich das der "sogenannten säkularen Popmusik". Warum fehlt dieses Prädikat bei der christlichen Schwester? Ist sie ein ungewolltes, missgebildetes Wechselbalg, wie auch viele Kritiker behaupten? Der Eindruck des Ungewolltseins ist nicht von der Hand zu weisen. Ganze sechs (6!) Seiten verwendet der Autor auf die christliche Popmusik. Wohlgemerkt die amerikanische und auch die europäische. Das ist nicht all zu viel, und mein Eindruck, dass eine Reihe interessanter Bücher zum Themenkreis Religion und Popmusik lieber in der Welt des "Sex and Drugs and Rock'n'Roll" herumstöbern, als sich dem naheliegenden zu widmen, wird durch Fermors Vorgehen gestärkt. Weniger, weil ich seine Aussagen und Thesen für nicht stringent halte, zögere ich mit Beifallsstürmen, sondern weil ich mich in ein Modethema hineingezogen fühle, in dem immer wieder Theologen im Müllhaufen der Popkultur nach den Perlen verborgener Dignität suchen. Da ist die Rede von "Musiktheologie", einem Begriff, der auf dem Hintergrund Schleiermachers Definition von Praktischer Theologie wenig Sinn macht, da begnügt man sich mit der Aussage, dass die Suche nach Spiritualität "... auch in den musikalischen Formen der Rockmusik ihren symbolischen Niederschlag gefunden hat." Fast möchte man in guter theologischer Rechtfertigungsmanier ausrufen: "Um Gottes Willen: Klarheit!", wäre da nicht die enorme und gelungene Anstrengung Fermors eines systematischen Zusammenblicks vorhandener Theorieansätze, die sein Buch zu einem überaus lesenswerten dennoch machen. Vielleicht lässt man beim Lesen einfach die Kapitel weg, die einem wenigsagend vorkommen und studiert um so eifriger die interdisziplinären Betrachtungen. Und die kommen in Fermors Buch nicht zu kurz, wenn ich auch finde, dass er mit der Perspektive "... die weitgefasste Lebenswirklichkeit ‚Popmusik' im wesentlichen auf ihr Erbe als einer religiös-ekstatischen Musikpraxis" zu befragen daneben greift. Wer Religion in den Äußerungen von Welt und Mensch sucht, der wird sie finden, wenn er davon ausgeht, dass alles Kulturelle religiöse Vererbungsmale trägt. Und da nimmt es nicht Wunder, dass sich der Autor am Ende des zweiten Kapitels zur Behauptung versteigt, dass "Ekstase, Trance, [...] Schwellenerfahrung [...] etc. Aspekte einer religiös bestimmten musikalischen Praxis sind, die sich durchaus in privat-alltäglichen Kontexten verorten lassen". Durchaus nicht, Euer Ehren, würde ich entgegenhalten und sicher bekämen wir in guter evangelischer Tradition (Fermor ist Vikar der evangelischen Kirche im Rheinland) letztendlich beide Recht. Auch ist das mittlerweile kein wissenschaftlicher Makel mehr - da hab ich schon eher Anfragen an die Sittlichkeit literarischer Rezeption eigener Veröffentlichungen und der Verengung des Musikwissenschaftsbegriffs auf den historischer Ausrichtung - und so nehme ich Fermors Buch als das, für was ich sie halte: eine Streitschrift im besten Sinne: angriffslustig und angriffig.

Gotthard Fermor: Ekstasis. Stuttgart: Kohlhammer 1999. ISBN 3-17-016096-6






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