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Michael Fehrenschild/Gerti Keller: No Future? 36 Interviews zum Punk
von rls anno 2015

Michael Fehrenschild/Gerti Keller: No Future? 36 Interviews zum Punk

"Keine Zukunft war gestern" hätte dieses Buch auch betitelt werden können, aber das gibt's schon. Nun also "No Future?", was übrigens auch ein alter Udo-Lindenberg-Songtitel war, eines der bedrückendsten, aber auch aufrüttelndsten Lieder Lindenbergs überhaupt, das sich als erschreckend zeitlos erwiesen hat. Lindenberg wird im Buch übrigens auch erwähnt, aber nur peripher, denn mit der Punkbewegung hatte der Panikrocker, der seine Wurzeln im Sechziger-Rock und Siebziger-Hardrock stets betont und selbst in den Achtzigern nie ganz verleugnet hat, wenig bis nichts am Hut. Statt dessen schwappte da in den späten Siebzigern aus England eine Modebewegung nach Deutschland, die durch ihr Image des Dilettantismus eine Bewegung inszenierte, die weit über die ursprünglichen Intentionen der Punk-Initiatoren hinausging. Der Do-it-yourself-Gedanke machte sich in der Szene breit (was wenige Jahre später der NWoBHM und damit dem gesamten Metalgenre zu einem ungeahnten Aufschwung verhelfen sollte), und es wurden Protagonisten eingebunden, die von sich glaubten, keinerlei künstlerisches bzw. in diesem Fall musikalisches Talent zu besitzen, was aber für die gebotene Musik trotzdem voll und ganz ausreichte. Freilich blieb das Phänomen gleichermaßen kurzlebig, wie es sich in bestimmten Konstellationen als erstaunlich stabil erwies: Die beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten des reinen Punks genügten vielen Protagonisten irgendwann nicht mehr, und es bildete sich eine atomistische Struktur, die mit dem Begriff Postpunk nicht adäquat beschrieben werden kann, weil man mit diesem selbst ein musikalisches Subgenre zu belegen begann. Trotzdem begannen einerseits immer wieder junge Musiker, Punkbands zu gründen, und manche altgediente Bands klingen selbst auf ihren aktuellen Alben immer noch so, als hätte es die musikalischen Entwicklungen der letzten 35 Jahre nie gegeben.
Die Musiker und Anhänger der ersten Punkwelle haben mittlerweile fast alle das 50. Lebensjahr überschritten und sind damit in einem Alter angekommen, das sie nie erreichen wollten oder nie zu erreichen für möglich hielten, sei letztgenannter Eindruck nun wegen der Menge an konsumierten Drogen und Alkoholika oder aufgrund der politischen Überzeugung, daß in Kürze sowieso der große Knall kommen würde (es herrschte immerhin Kalter Krieg, und es wäre bisweilen nicht weit bis zum Heißen gewesen), zustandegekommen. Und neben mancherlei Protagonisten, die aus erstgenanntem Grund tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden weilen, gibt es natürlich auch viele, die heute noch unter uns sind und die in "No Future?" vom Autorenduo Fehrenschild/Keller in doppelter Hinsicht befragt werden - einerseits als Zeitzeugen, die die damaligen Geschehnisse schildern, andererseits aber auch bezüglich ihrer Entwicklung bis zum heutigen Tag. Den absoluten unteren Rand der Gesellschaft lassen die Autoren dabei aus - alle 37 Personen (Guy Helminger und Manuel Andrack teilen sich ein Interview) leben in zumindest halbwegs stabilen Verhältnissen, auch wenn diese in einigen Fällen durchaus in der Nähe des Existenzminimums angesiedelt sind und die Betreffenden klar zum Ausdruck bringen, daß ihnen bewußt ist, daß sie keinen gesicherten Lebensabend verbringen werden, weil sie weder viel Rente bekommen werden noch anderweitig abgesichert sind. In jedem einzelnen Fall ist es jedenfalls interessant zu erfahren, in welcher Richtung der Lebensweg nach Ende der Ur-Punk-Periode abgebogen ist, und da findet sich vom "Einmal Punk, immer Punk" bis hin zu Menschen, die zumindest von Teilen ihrer Vergangenheit heute gar nichts mehr wissen wollen (wobei das im Regelfall nicht das Punk-Sein an sich, sondern bestimmte Komponenten wie etwa den Drogenmißbrauch betrifft), das komplette Spektrum. Widersprüche sind da durchaus eingeschlossen, sowohl innerhalb einzelner Interviews als auch in dem einen Fall, wo sich zwei Interviews mit zwei Mitgliedern ein und derselben Band befassen (Abwärts) - aber das macht beim Lesen erst das Salz in der Suppe aus, und jeder, der mal aktives Mitglied einer bestimmten, durch Abgrenzung geprägten Subkultur gewesen ist, kennt dieses Phänomen aus der Reflexion seiner eigenen Biographie.
Jeder der Interviewten wird per Kurzbiographie vorgestellt und aktuell abgebildet (die meisten der Bilder stammen von Dominik Pietsch), auch einige historische Fotos sind vertreten. Dazu kommen ganze Seiten, wo Schlagsätze aus den Interviews zitiert werden (punkgetreu übrigens mit völlig wüster Silbentrennung); auf zwei Seiten erreicht der punktypische Nihilismus seinen Höhepunkt, indem sie ausschließlich schwarz sind. Die Interviews selber bleiben konsequent im Frage-Antwort-Stil, wobei man sich beim Lesen erstmal dran gewöhnen muß, daß bei Frage 1 immer die Frage in Normalschrift und die Antwort in Fettdruck steht, bei Frage 2 aber umgekehrt und so weiter (wobei es einige Stellen gibt, wo dieses Prinzip durchbrochen wird und über die man dann wiederum stolpert, wenn man das Prinzip einmal intus hat). Viele der Befragten stammen aus den beiden Punk-Hochburgen Hamburg und Düsseldorf, was Vor- wie Nachteile hat: Der "Provinzpunker" stand strukturell schließlich vor ganz anderen Herausforderungen als der Großstadtpunker, der auf eine entsprechende Infrastruktur zurückgreifen konnte - eine entsprechende differenzierte Betrachtung wäre also wünschenswert gewesen, hätte aber auch die Geschlossenheit des Buches gefährdet. Mit Michael "Pankow" Boehlke ist auch ein Mitglied der ersten DDR-Punkerwelle vertreten (er sang in den Frühachtzigern bei Planlos), der Hochinteressantes zu erzählen weiß. Er ist auch der einzige, bei dem der Text nicht gleich mit dem Interview losgeht, sondern die Autoren einen erklärenden Einleitungstext davorgesetzt haben. Aber was für einen: "Das nachfolgende Interview soll beispielhaft und respektvoll aufzeigen, dass es in der DDR auch Punk gab. Der war aber völlig anders als der West-Punk und existierte unter viel schwierigeren Bedingungen." Angesichts dieser beiden gut gemeinten, aber in dieser Form an Peinlichkeit kaum zu überbietenden Sätze ballt sich automatisch die Faust in der Tasche jedes DDR-sozialisierten Lesers, und nur Boehlkes interessante Statements sorgen dafür, daß man das Buch nicht in dauerhaft schlechterer Erinnerung behält (der letzte Eindruck ist schließlich oft der prägende). Das hätte der weitgehend gelungene, teils wie beschrieben soziologisch hochinteressante Inhalt nämlich nicht verdient. Um noch ein paar Bands aufzuzählen, von denen (Ex-)Mitglieder vertreten sind: Krupps (nein, nicht Partygastgeber Jürgen Engler), Male, Abwärts, Die Toten Hosen, Fehlfarben ...

Michael Fehrenschild/Gerti Keller: No Future? 36 Interviews zum Punk. Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2014. Klappenbroschur, 268 Seiten, ISBN 978-3-943774-49-8. 28 Euro. www.jugendkulturen-verlag.de






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