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Debra Dean: Palast der Erinnerungen
von mh anno 2006

Debra Dean: Palast der Erinnerungen

Die junge Marina ist Museumsführerin in der berühmten Leningrader Eremitage. Früher umgaben sie faszinierende Gemälde und die tiefe Zuneigung des Mannes, den sie liebte. Nun aber, im Winter 1941, sind die Kunstschätze aus dem Museum verschwunden. In der Stadt herrscht Hunger, Not und Verzweiflung. Seit ihre große Liebe Dmitri eingezogen wurde, ist Marina einsam. Sie vermisst nicht nur ihn, sondern auch ihre Arbeit, die Führungen durch die prunkvollen Museumsräume. Eine alte Frau rät ihr, die jetzt leeren Säle imaginär wieder mit den Bildern zu füllen, die einst dort hingen. So findet Marina ihren eigenen Weg, das Elend um sie herum zu ertragen. Jahrzehnte später, in Amerika, sind es wieder die in ihrem Inneren erhaltenen Madonnenbilder, die ihr Kraft und Trost spenden. Als mittlerweile alte, gebrechliche Frau spürt, das ihr Gedächtnis immer mehr nachlässt. Im Palast der Erinnerungen kann sie noch einmal Geborgenheit und Glück erleben.
"Die Erinnerung ist wie eine Karte, die den Weg zu schmerzlicher Schönheit weist", ist die Kernaussage der Autorin im Buch. Sie überlegt: und hinterfragt: "Was braucht ein Mensch wirklich, um in schwierigen Zeiten zu überleben: die Nähe eines geliebten Menschen, die Kraft, sich zu erinnern oder die berauschende Schönheit der Kunst?"
Tatsache ist: Wenn alles bisher Stabilisierende in der privaten und beruflichen Umgebung wegbricht, wird der Mensch sehr schnell an seine Grenzen geführt. Marina gehört am Ende zu den Überlebenden. Ihr Rezept ist die Aufrechterhaltung ihres Geistes durch ständiges Üben der Imagination. Das erfüllt sie im Inneren und wirkt als effektives Mittel gegen eine unerträgliche und für viele Individuen zerstörerische Realität.
Debra Dean lässt uns an der Gedankenwelt ihrer Hauptakteurin Teil haben, deren Gefühlswelt durch die Bewahrung ihrer Seele geschützt bleibt. Der Lesende bleibt von der ersten bis zur letzten Seite in einer nicht bedrängenden, sondern erfrischender Spannung. So ganz nebenbei werden ihm sorgsam ausgeführte Details zu seinem besseren Verständnis an die Hand gegeben.
Auf einem hohen Niveau wird hier unterhalten und gebildet. Die durchscheinende Liebe der Autorin zur Kunst, die in dem Buch zur Völkerverständigung eingesetzt wird, lässt uns aus historischer Distanz hinter den damaligen "eisernen Vorhang" blicken. Das leidende, aber dennoch wertvolle menschliche Wesen muss nicht in der Not seine hohen Ideale aufgeben, diese können erhalten bleiben. In den Höhen und Tiefen des Lebens, wo es scheinbar keinen Ausgang gibt, kann Licht dennoch durchdringen. Marinas Visionen erhalten die Hoffnung auf bessere Zeiten in ihr. Nach den Kriegswirren, als schon wieder gepflanzt wird, geschieht ein Wunder. Marinas Bilder werden für andere sichtbar.
In der heutigen Zeit, wo das Verschwinden des Menschlichen nicht nur von Intellektuellen beklagt wird, sind solche Bücher wie dass Vorliegende, bitter notwendig. Sie bieten den Lesenden, die nach gelebten Werten ausschauen, reichhaltige Nahrung. Diese Sehnsucht wird, durch die Lektüre zumindest, gestillt. Es könnte sein, dass der Mensch von dieser neuen Sehweise ausgehend anfängt, seine menschliche Umwelt mit nachsichtigeren Augen zu betrachten. Vielleicht entdeckt er, dass sein Lächeln eine auch für seine Mitmenschen trübe Atmosphäre zum Erträglichen hin verändern kann - besonders im näheren familiären und beruflichen Umfeld, wo er bisher aus Lethargie nur aus der Reserve heraus beobachtend, anwesend war.
Die Autorin versteht es gut die Perspektiven zu wechseln und damit das Wesen der Alzheimer-Erkrankung für Laien erlebbar zu machen. Zum Buch inspiriert wurde Debra Dean von der lebenslangen Liebe ihrer Großeltern und ihrem gemeinsamen Weg in die Alzheimerkrankheit.
Im Nachwort ist zu lesen, dass die Personen und Ereignisse im Roman fiktiv sind, die Ereignisse aus den Kriegsjahren aber auf historischen Berichten beruhen. Den Interessierten, die mehr über die Belagerung Leningrads erfahren möchten, empfiehlt die Autorin die Lektüre von Harrison E. Salisburys Buch "The Siege of Leningrad, "The Orakel of the Herimetage", von S. P. Vaershavskiis, und "Writing the Siege of Leningrad", "Women`s Diaries", "Memoirs and Documentary Prose" von Cynthia Simmons und Nina Perlina.
Außerdem verfügt die Eremitage über eine ausgedehnte Website, www.hermitagemuseum.org, auf der vieles über die Geschichte des Museums zu erfahren ist. Der Betrachtende kann sich digitale Reproduktionen der Gemäldesammlung anschauen und an einer Videoführung durch verschiedene Räume des Museums teilnehmen.
Die Autorin: Debra Dean studierte an der University of Oregon. Für ihre Kurzgeschichten und Essays hat sie mehrere Literaturpreise erhalten. Sie lebt mit ihrem Mann in Seattle und unterrichtet Literatur an der Seattle Pacific University. "Palast der Erinnerungen" ist ihr erster Roman. Er wurde aus dem Amerikanischen von Judith Schwab übersetzt.

Debra Dean: Palast der Erinnerungen. Droemer-Knaur 2006. 300 Seiten. ISBN-13: 978-3-426-19713-4. 19,90 Euro






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