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Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise
von rls anno 2003

Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise

Reisen bildet, heißt es. Gut, diese Behauptung muß heutzutage etwas relativiert werden (ansonsten müßte sich hinter der Adresse "Ballermann 6" ein anerkanntes Weiterbildungsinstitut verbergen), und nach dem Goetheschen Motto "Man reist nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen" ist heute auch kaum noch jemand unterwegs (vielleicht allenfalls noch Wanderer oder Biker). Aber der Hinweis auf Goethe führt zumindest ansatzweise in die richtige Epoche, denn der Brite Charles Burney war 1770 und 1772 in Kontinentaleuropa unterwegs und hat das erwähnte Motto noch weiter eingeschränkt. Burney, seines Zeiches Doktor der Musik (promoviert hatte er 1769 in Oxford), plante nach seiner Promotion das Zusammenstellen eines Grundlagenwerkes namens "General History Of Music". Schnell stieß er allerdings auf das Phänomen, das beispielsweise auch das christlich-fundamentalistische Anti-Rockmusik-Schriftgut vom Ende des 20. Jahrhunderts auszeichnet (wenngleich dieses in noch verschärfterer Form): Ordentliche Quellenrecherche war ein weitgehendes Fremdwort, statt dessen schrieb ein Autor vom nächsten ab, dieser wiederum vom dritten, und ganz Schlaue nahmen vier oder fünf andere musikalische Bücher her und vermengten die Inhalte zu einem neuen. Burney widerstrebte es nun, ebenfalls diesen einfachen Weg zu beschreiten - er wollte mehr, und er wollte besser sein. So beschloß er, eine Reise zu unternehmen und sich in Frankreich und Italien selbst nach dem gegenwärtigen Zustand der Musikpflege umzuschauen und gleichzeitig Quellenmaterial für seine "General History" zu sammeln.
Nun hört sich das einfacher an, als es zur damaligen Zeit war. Touristische Infrastruktur fehlte trotz der Tatsache, daß es unter gebildeten Briten fast schon zur Tradition geworden war, einmal auf dem Kontinent gereist zu sein, nahezu völlig - die reisenden Myriaden von Landsleuten konnten durchaus auch hinderlich sein, denn etliche französische Gelehrte hatten es sich verbeten, quasi als "Anschauungsobjekt" und touristisches Ziel der Briten zu dienen. Über den Wegezustand zu dieser Zeit braucht man keine großen Worte zu verlieren; Burney hatte Glück (oder weise Ratgeber), daß er vergleichsweise spät im Jahr aufbrach und zumindest auf seiner ersten Reise auch weitgehend gutes Wetter hatte. So machte er sich Anfang Juni 1770 auf den Weg, versehen mit diversen Empfehlungsschreiben von einflußreichen Leuten an wiederum andere, was ihm manche Tür öffnen half, die ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Hauptziel der ersten Reise war Italien, für Burney selbst in dieser Zeit das musikalische Mekka. Um dorthin zu gelangen, mußte er allerdings durch Frankreich, wo er wenig Beglückendes fand. Möglich, daß die alten Spannungen zwischen England und Frankreich unterschwellig eine Rolle spielten - Burney jedenfalls konnte mit der französischen Musik zu dieser Zeit meist wenig anfangen, und er wählte bisweilen recht drastische Worte, um seine Meinung kundzutun (so schließt er beispielsweise seinen Bericht von einem Konzert im Pariser Louvre mit dem Satz "Doch mit dem letzten Chore nahm das Concert ein Ende mit Schrecken; es übertraf an Geschrey, alles Lärm, was ich je in meinem Leben gehört hatte"). Neben Konzerten besuchte Burney auf seiner Reise aber auch Bibliotheken und Archive; auch versuchte er in den besuchten Städten alle bedeutenderen dort lebenden Komponisten zu treffen, die ihm häufig Hand- oder zumindest Abschriften ihrer Werke überließen (man vergegenwärtige sich, daß man sich in einer Zeit befindet, da Notendruck immer noch einen Touch von Exklusivität besitzt und die Möglichkeiten der technischen Speicherung von Musik noch ein Jahrhundert unerfunden bleiben sollen, wenn man von walzengetriebenen Flötenuhren und ähnlichen Exempeln absieht). So erhielt er vor allem in Italien, das er von Turin aus südwärts bis Neapel bereiste, einen umfangreichen Bestand sowohl rezenter als auch historischer Musikalien, den er später für seine "General History" aufarbeiten konnte. Wo dieser umfangreiche Quellenbestand (der wahre Schätze enthalten muß) heute aufbewahrt wird bzw. ob er sich überhaupt erhalten hat, ist mir leider nicht bekannt. Burney behandelt also mal mehr, mal weniger ausführlich das Musikleben in Turin, Mailand, Brescia, Verona, Vicenza, Padua, Venedig, Bologna, Florenz, Siena, Montefiascone, Rom und Neapel; die ausführlichsten Studien betreffen Venedig, Rom und Neapel. Neben dem höfischen und kirchlichen Musizieren interessierte sich der Autor aber auch für die Musik der einfachen Menschen; ohne diesbezüglich tiefere Nachforschungen anzustellen, nahm er doch entsprechende Beispiele, wenn sie ihm über den Weg liefen, in sein Reisetagebuch auf. Mit all diesen Materialien kehrte Burney nach England zurück. Die Idee, das Tagebuch nicht für die "General History" aufzusparen, sondern gesondert zu veröffentlichen, kam ihm erst nach seiner Rückkehr. Reiseliteratur boomte in verschiedenen europäischen Ländern zu dieser Zeit (in Deutschland noch mehr als in England), und so fand das in England 1771 veröffentlichte und auf die konkreten musikalischen Erkenntnisse und Erlebnisse der Reise konzentrierte Reisetagebuch schnell einen deutschen Übersetzer und kam 1772 auch auf den deutschen Markt. Zugleich erging an Burney die Anregung (oder die Bestärkung eines Plans) zu einer zweiten Reise, diesmal durch deutsche Lande.
Anfang Juli 1772 brach Burney also zu dieser zweiten Reise auf und kam über Frankreich und Belgien nach Deutschland. Bis Mannheim dem Rhein aufwärts folgend, wandte er sich danach gen Osten, stieß bei Ulm auf die Donau und folgte dieser bis Wien, einen großen Abstecher nach München inclusive. Von Wien aus wandte er sich nordwärts, reiste durch Böhmen nach Sachsen, das seinerzeit noch stark unter den Folgen des Siebenjährigen Krieges litt (als lokalhistorisch interessierter Mensch haben mich die sächsischen Passagen natürlich besonders interessiert), und gelangte über Berlin und Potsdam schließlich nach Hamburg, von wo aus er über Holland den Heimweg antrat. Im Gegensatz zu Frankreich und Italien waren die durchreisten Gebiete in Großbritannien wenig bekannt, weshalb es sich Burney leisten konnte, im zweiten Band seiner Reisetagebücher bisweilen vom rein musikalischen Sujet etwas abzuweichen und weitergehende landeskundliche Abhandlungen einfließen zu lassen, ohne daß man ihn des Faktenwiederkäuens hätte verdächtigen können. Das Problem dieses zweiten Teils lag aber ganz woanders: Burney nahm auch in den Schilderungen über den Zustand der deutschen Musik und seine Interpretation der Ausprägung der deutschen Volkstugenden (die wenig mit dem Bild von "Dichtern und Denkern" zu tun hatten) kaum Blätter vor den Mund, und so fielen die Urteile an manchen Stellen ähnlich ungnädig aus wie die über die französische Musik (obwohl der Autor die musikalische Vielfalt auf kleinem Raum, die durch die deutsche Territorialgliederung zustandegekommen war, durchaus zu schätzen wußte und beispielsweise seinen ursprünglich nicht geplanten Abstecher nach München extrem lohnend fand). Die Urteile über die Franzosen im ersten Band hatten in Deutschland offenbar niemanden gestört (vielleicht hatte man sich gar heimlich die Hände gerieben, weil der "Erbfeind" eins auf den Deckel bekam), nun aber heulte die patriotische Volksseele der Deutschen auf wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hat. Das betraf zunächst den Übersetzer, der kurzerhand konterte und in zahllosen Fußnoten kleinlichst alle Fehler Burneys richtigstellte, auf Polemiken mit Gegenpolemiken antwortete und tiefschürfend in den Text eingriff. Am deutlichsten wird das im Hamburg-Kapitel, wo Burneys kompletter biographischer Abriß über Carl Philipp Emanuel Bach gestrichen und durch eine Bach-Autobiographie ersetzt wurde. Trotzdem rauschte auch im deutschen Blätterwald ein Sturm der Entrüstung, als die Tagebücher der zweiten Reise (offenbar aufgrund ihres großen Umfangs wurden sie auf zwei Bände verteilt) 1773 in deutscher Übersetzung erschienen. Es wäre interessant, auch mal was über die damalige Resonanz bei den Käufern zu erfahren - hierzu schweigt sich das sonst sehr informative Vorwort des Herausgebers Christoph Hust leider aus.
Nachdem die Tagebücher über die Jahrhunderte hinweg mehrere Neuauflagen erfuhren, waren sie seit einigen Jahren wieder vom Buchmarkt verschwunden und nur noch antiquarisch aufzutreiben. Diesem Zustand hat der Bärenreiter-Verlag verdienstvollerweise ein Ende gesetzt und in der Herausgeberschaft des erwähnten Christoph Hust einen Reprint der originalen drei deutschen Übersetzungen herausgebracht. Es handelt sich also um einen fotomechanischen Nachdruck, was bedeutet, daß der Leser in der Lage sein muß, Fraktur von 1773 zu lesen, was sich aber dank der guten bis sehr guten Reproduktionsqualität (vom ersten Band konnte man offensichtlich eine bessere Vorlage auftreiben als vom zweiten und dritten) als nicht so schwer herausstellt, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, daß es z.B. keine Umlautstriche, sondern ein kleines über den Vokal geschriebenes e gibt oder daß unten auf jeder Seite die erste Silbe des ersten Wortes der nächsten Seite wiederholt wird (eine nach heutiger Sicht kuriose, den Lesefluß nach entsprechender Gewöhnungsphase aber durchaus fördernde Maßnahme). Der Band enthält jeweils eine Doppelseite des Originals auf einer Seite. Dazu kommt das bereits erwähnte Vorwort sowie eine Erläuterung der Fußnoten. Im Original ist in vielen von ihnen nicht ersichtlich, welche von Burney und welche vom Übersetzer stammen. Die Erläuterung behebt dieses Manko, wobei es meines Erachtens aber besser gewesen wäre, jeweils vorn neben die entsprechende Fußnote ein kleines Kürzel (B.) oder (Ü.) zu plazieren (die Mühe, dies beim Nachbearbeiten der Repros noch mit in die Bilddatei einzubauen, wäre gering gewesen), denn das ständige Nach-Hinten-Blättern erfreut beim Lesen nicht gerade. Dies ist aber mein einziger Kritikpunkt an dieser Veröffentlichung.
Burney schreibt flüssig und allgemeinverständlich (natürlich muß man immer die geistesgeschichtliche Situation um 1770 im Hinterkopf behalten) und zeichnet ein trotz der Konzentration auf die musikalischen Sujets vielfarbiges Bild der durchreisten Gebiete, so daß das Buch nicht nur als musik-, sondern auch als allgemein kultur- oder gar lokalhistorische Quelle von großer Bedeutung ist. Mir hat die Lektüre jedenfalls ausgesprochen viel Spaß gemacht.

Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Reprint der Ausgabe Hamburg 1772/1773. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben von Christoph Hust. Documenta Musicologica I, Band XIX. Kassel: Bärenreiter-Verlag 2003. 504 Seiten. ISBN 3-7618-1591-3. 39,90 Euro






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