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Jan Brachmann: Kunst-Religion-Krise / Der Fall Brahms
von *tf anno 2004

Jan Brachmann: Kunst-Religion-Krise / Der Fall Brahms

Die überarbeitete Version seiner Dissertation stellt Brachmann bei Bärenreiter in der Reihe Musiksoziologie unter einem werbewirksamen Titel vor. Der Fall Brahms - mancher könnte hier vermuten, dass neue vorgebliche Enthüllungen über den Zusammenhang homosexueller Vorlieben und kompositorischem Schaffen vorgestellt werden. Wer dieses sucht, wird zu Recht enttäuscht sein, hat er doch den eigentlichen Titel Kunst-Religion-Krise nicht genügend beachtet. Auch dieser Titel ein Wortspiel. Kunst ist ein wesentlicher Bezugspunkt des Buches, Religion noch viel mehr und auch Krisen werden ausführlich analysiert und wirkungsgeschichtlich erforscht. Daneben ist natürlich auch von Kunst-Religion die Rede, wird die Religions-Krise verdeutlicht, die erst zu dieser führte und schließlich fällt das Interesse auch auf die Krise der Kunst-Religion, die Kunst-Religions-Krise. Wie wichtig dieses Geflecht ist, in dem sich Johannes Brahms befindet, an dem er sich reibt, abarbeitet und das er kompositorisch reflektiert, wird im Verlauf des Buches zunehmend deutlicher. Zunächst zum Aufbau. Am Anfang steht die Rückschau auf Interpretationen des Brahmsschen Schaffens und seine gegensätzliche Verortung durch die jeweiligen Beobachter. Interessant herausgearbeitet ist die Diskrepanz zwischen den Begründungsbemühungen derer, die Brahms als Kirchenmusiker vereinnahmen wollen, ebenso wie derjenigen, die Brahms allenfalls als religiös kokettierenden Atheisten darstellten. Dieser Streit ist ebenso erbittert wie andauernd. Brachmann versucht, nicht die Person Brahms in den Mittelpunkt zu stellen, sondern sie als gefangen den theologisch-philosophischen Zeitläufen zu fixieren. Das nimmt zum einen den Einfluss der Gesellschaft und ihrer Kultur auf das Schaffen von Komponisten ernst und gibt andererseits Freiräume für die Zusammenschau eines wechselhaften Komponistenlebens. Das Leben von Brahms inmitten der zeitgeschichtliches Strudel, Irrungen und Wirrungen, seine Zerrissenheit zwischen Glauben und Zweifel werden dabei bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Das Quellenstudium förderte dabei überaus reichliche Belege für das Geistesleben des Johannes zu Tage. Dessen Auswirkungen auf Komponiertes wird anhand des Notentextes analysiert, nicht ohne vorherige Auslegungen zu vernachlässigen. Mit knapp 500 Seiten und kleiner Schrift benötigt es zunächst Überwindung vom Leser, zuzugreifen und hineinzuschauen. Dazu kommt, dass man nach wenigen Seiten merkt, dass der Untertitel nur ein Appetizer ist. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, wie man beim weiteren Lesen überrascht feststellt. Denn das Buch liest sich - einmal angefangen - wie ein Krimi oder wie ein Harry Potter für den Herrensalon. Aufgepasst: Wer sich für Theologiegeschichte in der Zusammenschau mit Philosophie- und Kunstgeschichte interessiert, dem das Beackern dieses Feldes aber immer zu trocken und zu mühselig war, hat mit Brachmanns Buch den Ausweg gefunden. Hier wird genau beobachtet und fesselnd geschrieben. Und auch weiterführende interdisziplinäre Ansätze sind hier zu finden. Ideen, die darauf warten, weitergedacht und selbstgedacht zu werden. Alles in allem: am Kauf kommt man schwerlich vorbei.

Jan Brachmann: Kunst-Religion-Krise / Der Fall Brahms, Kassel: Bärenreiter 2003, ISBN 3-7618-1361-9, Preis 34,95 Euro
 






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