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Alastair Bonnett: Die seltsamsten Orte der Welt
von rls anno 2015

Alastair Bonnett: Die seltsamsten Orte der Welt

Es wüßten doch einige in Geometrie Bescheid, ulkte einst Heinz Erhardt, als er das Reich Hamudistan zwischen Iran und Persien verortete und sich in der folgenden Kunstpause nach anfänglichem Zögern einige Lacher meldeten. Daß der Großmeister der Sprachverdrehung Geographie meinte (und in diesem Kontext Iran und Persien weitgehend deckungsgleich sind), ist natürlich klar. Aber dieser Witz ist ein halbes Jahrhundert alt, und heutzutage hat man als Geograph ganz andere Probleme: Die Welt ist zumindest weitestgehend "entdeckt", es gibt im Normalfall keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte, und bis auf einige Bergspitzen und entlegene Areale in Antarktis, Taiga, Sahara, Dschungel oder Tibetischem Hochland dürfte es kein Gebiet mehr geben, wo noch kein Mensch seinen Fuß hingesetzt hat. Die geographische Erschließung außerirdischer Bereiche wiederum bleibt für die meisten terrestrischen Geographen verschlossen. Was also macht man heutzutage als Geograph? Es muß immer noch Leute geben, die ebensolche werden wollen, denn es gibt immer noch Lehrstühle, wo man dieses Fach studieren kann, und Alastair Bonnett besetzt einen davon, nämlich denjenigen für Soziale Geographie an der Universität Newcastle. Damit und mit dem zweiten Stichwort "Psychogeographie" sind zwei Hauptfelder der heutigen Geographen schon benannt: Es kommt auf die Verbindung der Menschen zu ihrer Umgebung an, und zwar nicht primär aus Sichtweise der Menschen, sondern mit dem "Raum" als Fokus.
Das führt uns zu Alastair Bonnetts neuem Buch, welches verspricht, den Leser an die seltsamsten Orte der Welt zu führen - nicht im Sinne eines Reiseführers freilich, denn einige der insgesamt 47 vorgestellten Orte kann man zwar durchaus real bereisen, bei anderen empfiehlt sich das aus den verschiedensten Gründen aber nicht. Die Objekte sind in acht Kapitel eingeteilt: "Verlorengegangene Orte", "Versteckte Geographien", "Niemandsländer", "Geisterstädte", "Ausnahmeräume", "Enklaven und abtrünnige Nationen", "Schwimmende Inseln" und schließlich "Vergängliche Orte", und Bonnett erzählt in jeweils maximal 10 Seiten umfassenden Kapiteln die Geschichte dieser seltsamen Orte, teilweise auch ergänzt um eigene Erfahrungen, wenn er sie selbst bereist hat. Und obwohl der Ort als solcher jeweils den Ankerpunkt bildet, so haben die Beschreibungen mit Geographie im engeren Sinne oftmals wenig zu tun, sondern bewegen sich eher im Feld der bereits genannten Psychogeographie, womit man als Leser, der vielleicht mit einem spannenden Expeditionsbericht im Stile der klassischen Reiseliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gerechnet hat, erstmal klarkommen muß, obwohl man natürlich auch viel Handfestes über die Orte erfährt, sofern es denn Handfestes über sie zu erfahren gibt. Einige sind eher skurriler Natur, etwa Sealand, ein selbsternannter Staat auf einer alten Militärplattform vor der britischen Küste, andere bilden tragische Ereignisse ab wie die Geisterstadt Prypjat, die im Zuge der Tschernobyl-Katastrophe evakuiert werden mußte. Wieder andere Orte sind zwar noch da, aber eben auch wieder nicht - so beschäftigt sich das Leningrad-Kapitel mit umbenannten Orten und das Kapitel "Das alte Mekka" mit dem wenigen, was von ebenjenem noch übrig und nicht diversen Neubauten geopfert worden ist, obwohl der Mythos Mekka sich zu guten Teilen eben genau aus dieser alten Bausubstanz speist. Unter "Niemandsländer" finden sich riesige Areale wie Bir Tawil, das weder Ägypten noch der Sudan haben wollen, weil sie dann auf ein anderes, als wertvoller eingeschätztes Gebiet verzichten müßten, aber auch winzige Areal wie Verkehrsinseln, die besonders dann, wenn sie von enorm dicht befahrenen Strecken umschlossen werden, tatsächlich so gut wie nie vom Fuß eines Menschen betreten werden. Nach Bright Light in der Mures-Straße 4 in Bukarest wiederum wird niemand freiwillig wollen, weil es sich um ein CIA-Objekt handelte, in dem Terrorverdächtige festgehalten wurden, und ganz am Ende der "Vergänglichen Orte" steht "Stacey's Lane", wo der Autor aufwuchs, die Straße seiner Kindheit im psychologischen Sinne als verlorenen Ort wertend. In einem Fall hat er das Pech, daß die geschichtliche Entwicklung schon weiter ist als im Text beschrieben: Der Grenzstreit zwischen Indien und Bangladesh hat tatsächlich eine Lösung gefunden, und die im Kapitel "Chitmahals" beschriebene Enklave dritten Grades ("Sie trägt den Namen Dahala Khagrabari und besteht aus siebentausend Quadratmetern Indien innerhalb eines bangladeschischen Dorfes, das seinerseits in einer indischen Enklave in Bangladesch liegt.") gehört somit der Vergangenheit an, wobei die lokalen Probleme, auf die das Kapitel ausführlich eingeht, damit freilich noch lange nicht gelöst sind. Und so bieten viele Texte Anhaltspunkte zum Weitersuchen und -forschen, auch oder gerade weil sich viele der Objekte eben nicht als klassische Reiseziele zum Besuch eignen. Dafür kann man das Buch aufgrund des relativ robusten Schutzumschlages prima als Lektüre auf die Reise zu anderen Zielen mitnehmen ...

Alastair Bonnett: Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte - Verlorene Räume - Wilde Plätze - Vergessene Inseln. München: C. H. Beck 2015. Festeinband, 296 Seiten, ISBN 978-3-406-67492-1. 19,00 Euro. www.beck.de
 






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