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Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie
von ta anno 2004

Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie

Der Reihe nach und am Titel entlang:
Richard Wagner - "Unter allen Komponisten der Moderne war er die gewiß größte schriftstellerische Begabung und unter allen Schriftstellern der Moderne ohne Zweifel der genialste Komponist." (S. VII, Vorwort) Oder, ohne die subjektive Wertung übernehmen zu wollen: Wagner hat Worte und Noten niedergeschrieben, die Anerkennung und Verehrung, aber auch (besonders nach dem zweiten Weltkrieg) Kritik und Ablehnung fanden. In gewissem Sinne ist dieses Buch auch eine Biographie Wagners, weil sein Leben ab dem Moment, in dem die ersten Ansichten reiften und die Form eines Musikstücks fanden, vor den Augen des Lesers geschehen lassen wird. Allerdings unter einem Schwerpunkt:
Politisch - Wagner war nicht nur Komponist, sondern auch Literat und (Kultur-)Philosoph. Autor Bermbach ist Professor für Politische Wissenschaft und legt dementsprechend Wert darauf, jenen Teil von Wagners Leben intensiv und extensiv, unter immer neuen Perspektiven, zu beleuchten. Wem Wagner außermusikalisch nur als Antisemit bekannt ist, der erlebt hier eine durchgehende Katharsis. Bermbach zerrt alle Schriften von (Veröffentlichungen, Briefe, Tagebücher) und viele Schriften über Wagner ans Tageslicht, auf deren Basis er schließlich ein differenziertes Bild von Wagners politischen und philosophischen Grundüberzeugungen entwirft. So ersteht Wagners sachliches Verhältnis zu Schopenhauer (Bestätigung), Wagners sachliches Verhältnis zu Platon bzw. der antiken Polis (Sehnsucht), Wagners sachliches Verhältnis zu Feuerbach (Entflammung), Wagners sachliches, aber partiell auch persönliches Verhältnis zu Linkshegelianismus und Linkshegelianern usf. aus der Asche der Zeiten. Bermbach greift zur Darstellung der Wagner'schen Positionen selbstverständlich auf verwandte oder - des Kontrasts wegen - entgegenstehende Positionen zurück, verzettelt sich aber nicht in ausschweifenden Präsentierungen derselben und bewegt sich, trotz biographischer Ausflüge und historischer Kontextualisierungen, durchgängig souverän am thematischen Leitfaden des politisch-ästhetischen Denkens von Wagner entlang. (Darum muss man im Umkehrschluss damit leben, dass Theorien anderer Denker eine streckenweise wirklich arg vergröberte Behandlung erfahren.)
Ästhetisch - Wagners wirkungsästhetischer Ansatz sah eine enge und in ihrer Struktur streckenweise recht diffizile Verknüpfung von politischer Einstellung und musikalischer Betätigung bzw. Rezeption vor. Darum ist sein künstlerisches Gesamtwerk getränkt von Stellungnahmen zu Politik, Kultur und sozialer Struktur seiner Gegenwart. Bermbach geht zu Darstellung dieser Verknüpfung auf jede (!) Wagner-Oper einzeln ein und liefert mal mehr, mal weniger lange Rezensionen, wobei die musikalische Umsetzung des Ganzen zwar in den Hintergrund gedrängt, die gedankliche Motivation Wagners aber um so eingehender betrachtet wird. Dass es hierbei zu Wiederholungen kommt, sei Bermbach nicht zur Last gelegt. Nicht jedes Wagner-Stück bietet offenbar einen neuen Gedanken.
Utopie - Im Titel steckt bereits die kritische Distanz des Autors zum gedanklichen Schaffen Wagners. Wagner stand bekanntermaßen dem Judentum ablehnend gegenüber und fuhr hierbei sowohl antisemitische als auch antijudaistische Begründungsmuster auf. Jenseits von pauschaler Abwertung, aber auch jenseits von pauschaler Zustimmung, also streng wissenschaftlich in einem bestimmten Sinne, sieht sich Bermbach die Wagner'schen Thesen nicht nur, aber auch zu diesem Thema an und liefert dabei wohlreflektierte Analysen von Bedeutungsgehalt und Wert des Gesagten. Blicke auf die Besprechung der polemischen Schrift "Das Judentum in der Musik" (S. 261-282, 271 ff.) oder auf die Rekapitualion und Analyse der Wagner-Rezeption im Epilog (S. 362 ff.) zeigen, dass gerade ein von der Idee eines Politik und Kunst umfassenden "Gesamtkunstwerks" erfasster Komponist wie Wagner eine eingehende Auseinandersetzung und distanzierte Betrachtung, aber auch Würdigung verdient.
"Der Wahn des Gesamtkunstwerks" schreitet fort in einer Zusammenführung von Chronologie und thematischen Feldern (z.B. "Liebe und Anarchie", "Adelskritik und republikanische Monarchie", "Kritik des Kulturbetriebs"), die unter sechs sachlichen Einheiten geordnet werden: Anfänge (1), Revolutionäre Traktate (2), Politik und Ästhetik (3), Ästhetische Identität (4), Antisemitismus und ästhetische Theorie (5), >Regeneration< durch das Gesamtkunstwerk? (6), wobei zu vermuten ist, dass dieser Teil des Buches (immerhin 77 Seiten) jener vom Verlag angekündigte ist, welcher erst mit der vorliegenden zweiten Auflage hinzugekommen ist und sich besonders darum bemüht, zu zeigen, inwiefern man annehmen kann, dass Wagners großes Vorhaben der politischen Wirkmächtigkeit künstlerischer Ergüsse zum Gelingen berufen oder zum Scheitern verdammt ist. Eine endgültige Antwort auf diese Frage hat m.E. auch Bermbach nicht parat.
Fazit: Wer über Wagner im Zusammenhang mit politisch-ästhetischer Programmatik reden will, kommt hier vermutlich nur schwer drumherum. "Der Wahn des Gesamtkunstwerks" ist sachlich fundiert und bietet auch Ansätze zu weiteren Bearbeitungen der Thematik. Bermbach schreibt trocken, klar und durchaus humorlos, bringt es dabei auf knapp vierhundert Seiten, und das ist bei diesem großformatigen, in Leinen gebundenen Buch eine Menge Lesestoff. Aber den wird man sich als Interessierter problemlos geben können.

Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. Stuttgart: Metzler-Verlag 2004. 396 Seiten. ISBN 3-476-01868-7, 34,95 Euro






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