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Liedermacher "Ostwind"    27.03.1998    Leipzig, Ev.-freikirchliche Gemeinde
von rls

Es ist schon merkwürdig: Immer, wenn in Leipzig Buchmesse angesagt ist, findet am Freitag abend ein kulturell wertvolles Ereignis statt, das mit der Messe überhaupt nix am Hut hat. Legten voriges Jahr die amerikanischen Kultmetaller Manowar die Trommelfelle der Anwesenden in Trümmer, so zelebrierten die unter dem Banner "Liedermacher Ostwind" zwei Wochen lang die deutschen Lande durchziehenden Herrschaften eher ein Fest der leisen Töne. Der große Kirchensaal war rappelvoll und harrte in gespannter Erwartung aus.
Die Ansagen übernahm Südostdeutschlands wohl streitbarster (und umstrittenster) Pfarrer: Theo Lehmann konnte das Auditorium mit klaren Worten, hübschen Wortspielchen und unmißverständlichen Botschaften problemlos fesseln. Man mag über den Mann denken, wie man will - eines steht aber fest: Der Chemnitzer Theologe (welch Wortspiel!) ist definitiv einer der sehr wenigen Demagogen (im positivsten Sinne zu verstehen!), die die Kirche heute hat und von deren Sorte sie eigentlich viel mehr bräuchte. Er wob einen hervorragenden Teppich, auf dem auch sogleich der erste Liedermacher heranschritt: Wolfgang Tost aus Chemnitz. Der wußte den bereiteten Boden trefflich zu nutzen und kitzelte aus dem Publikum Sangesfähigkeiten heraus, die den Chören eines gewissen Gotthilf Fischer locker Konkurrenz machten. Über die Qualitäten des Tostschen Songmaterials noch Lobeshymnen verbreiten zu wollen hieße Atomraketen nach Rußland zu exportieren, also beschränke ich mich auf die Feststellung, daß auch im spieltechnischen Bereich alles im Grünen war. An dieser Stelle sei auch Ronny Neumann lobend erwähnt, der alle drei Liedermacher musikalisch unterstützte, aus seinem Keyboard wahlweise sphärische Untermalungen, romantisches Geklimper oder rock'n'rolliges Gehämmer hervorzauberte und auch mal zum "Zerrwanst" (für alle Unwissenden: Akkordeon) griff. 45 Minuten Wolfgang Tost vergingen jedenfalls wie im Fluge, und sämtliche vorhandenen Daumen wurden nach oben gereckt.
Lutz Scheufler brauchte eigentlich die Stimmung nur auf diesem hohen Level zu halten, was ihm auch problemlos gelang. Der aus dem hübschen Erzgebirgsdorf Bernsbach bei Aue stammende Barde hatte insgesamt den höchsten Entertainment-Faktor aufzuweisen, was speziell an der multikultigen Verballhornung des Kinderliedes "Es war einmal ein Gänseblümchen" lag. Dieses gab's u.a. auf die Melodien von "Herzilein", "Marmor, Stein und Eisen bricht" und "Country Roads" - fehlte eigentlich nur 'ne Napalm Death-Version ... Bei aller Unterhaltung kam das Nachdenken aber natürlich nicht zu kurz. Insbesondere die Songs über unser Verhältnis zu Kindern sind dem selbst mit einer fröhlichen Schar Nachkommen gesegneten Liedermacher als sehr gelungen anzurechnen. Die Zeit verging auch hier sehr schnell, und tosender Applaus begleitete den Künstler von der Bühne.
Sozusagen als Headliner betrat schließlich die graue Eminenz der ostdeutschen, ja der gesamtdeutschen Liedermacherszene die Bühne: Jörg Swoboda. Wer nach dieser Einleitung die Beschreibung eines in Ehren ergrauten alten Herren im Rollstuhl, der seine Hits von einstmals singt, erwartet, den muß ich enttäuschen: Auch Swobodas Songs bestachen durch höchste Dynamik, wiesen allerdings nicht den hohen Entertainment-Faktor seiner beiden Vorgänger auf. Dafür war hier der Nachdenkeaspekt stärker betont, was logischerweise zu leicht abgeschwächten Publikumsreaktionen führte. Nach einigen Songs herrschte im Saal gar betretenes Schweigen, wohl weil man sich und seine persönlichen Schwächen in den Liedern wiedererkannt hatte. Dies hatte allerdings eine geradezu dialysierende Wirkung, und zum Schlußsong, dem Quasi-Titelsong der Tour, "Gott will alle", den alle fünf Tourtroß-Mitglieder gemeinsam zelebrierten, herrschte im Saal wieder eine gelöste Stimmung. Daß die Liedermacher nicht ohne Zugaben von der Bühne kamen, war ebenfalls klar. So bleibt die Erinnerung an ein sehr gutes Konzert, das lediglich einen kleinen Schönheitsfehler aufwies: Wolfgang Tosts wohl größter "Gassenhauer", "Kleines Samenkorn am Boden", tauchte nicht in der Setlist auf ...
 






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