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Buon Natale!   25.12.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Giuseppe Verdis Requiem wird ja gern als italienische Oper im Kirchenmusikgewand apostrophiert, und so lag es für die Spürnasen der Programmplanungsfraktion nahe, mal zu schauen, was die großen italienischen Komponisten, die man heute vor allem von anderen Facetten ihres Schaffens her kennt, noch so an Kirchenmusik geschrieben haben und wie solche in Deutschland nur höchst selten zu hörenden Werke denn klingen. Ergo entstand ein Programm, das diesbezüglich auch noch einen weihnachtlichen Schwerpunkt legt und folgerichtig am Abend des 1. Weihnachtstages im fast bis auf den letzten Platz gefüllten Leipziger Gewandhaus auf den Pulten des MDR Sinfonieorchesters liegt. Dirigent ist der gebürtige Sizilianer Francesco Angelico, der sowohl als Opern- wie auch als Orchesterdirigent reüssiert und von dem man aufgrund seiner Herkunft noch zusätzlich annehmen konnte, daß ihm dieses Repertoire sehr liegen würde. Diese Erwartungen - das sei vorweggenommen - werden voll und ganz erfüllt.
Los geht's mit dem Gloria aus der sogenannten "Messa di Gloria" von Giacomo Puccini, einem Examenswerk, das erst nach dem Tod des erfolgreichen Opernkomponisten wiederentdeckt wurde. Und siehe da, es vergehen nur ein paar Takte, bis man im Wechsel von den weiblichen zu den männlichen Chorstimmen des auf der Orgelempore postierten MDR Rundfunkchores erkennt, daß auch der junge Puccini schon wirkungsvolle operatische Effekte einzusetzen wußte. Freilich verkennt man nicht diverse überambitionierte Holperer und Schlenker, zumal Angelico am Pult auch keineswegs gewillt ist, über diese einfach hinwegspielen zu lassen, sondern sie so betont, als wären sie der größte Einfall seit Menschengedenken. Anfangs gelingt die Balance zwischen Orchester und Chor noch nicht optimal, so daß zwei Hörner selbst im Piano die pianissimo singenden weiblichen Chorstimmen ins klangliche Abseits stellen. Aber diese Probleme weiß Angelico bald immer besser zu lösen und macht interessante Gewebestrukturen hörbar, auch und gerade in der Formung der großen Chormasse im Laudamus. Nur Solotenor Jan Sulikowski steht meist auf verlorenem Posten und wird vom Orchester meist zugedeckt - wenn dem mal nicht so ist, hört man allerdings auch überdeutlich, daß er sich für die Höhen ziemlich anstrengen muß und die Stimme generell etwas zu trocken für dieses Repertoire anmutet. Dafür entschädigen Angelico und der Chor mit einer exzellenten Fahlheit im Miserere, das wirkungsvoll mit diversen Triumphpassagen kontrastiert, die auch in diverse Sandalenfilme des 20. Jahrhunders gepaßt hätten. Der exzellent komponierte wie gespielte Blechchoral im Quoniam leitet in das hochdramatische Finale über, in dem man sich über die so simplen wie genialen Strukturelemente in Form einer chromatisch aufsteigenden Linie wundert, bevor der totale Triumph ausbricht.
Ottorino Respighi kennt man nicht als Opernkomponist, sondern eher wegen seiner römischen Orchesterstücke. Mit "Lauda per nativitá del Signore" hat er eine Art Weihnachtskantate geschrieben, die zunächst ein kurioses Bühnenbild erzeugt: Die Besetzung besteht neben dem nach wie vor oben stehenden Chor aus einer Sopranistin, einer Mezzosopranistin, einem Tenor, sechs Holzbläsern, einem Triangelspieler und einem Pianisten - ansonsten ist die Bühne menschenleer, nur die Stühle und Notenpulte der eben noch beteiligt gewesenen Orchestermusiker (Puccini hatte eine ziemlich volle Besetzung gewählt) sind noch da. Auch für Angelico muß diese Art des Dirigierens recht ungewohnt gewesen sein, aber er läßt sich nichts anmerken. Die reduzierte Besetzung führt leider auch dazu, daß die Nebengeräusche aus dem Publikum, die fast das Niveau von Loriots legendärer Hustensymphonie erreichen (gibt's auf Youtube!), die ersten Minuten der sich eher bedächtig entwickelnden Komposition stimmungsseitig ziemlich verhageln, und erst ganz allmählich kehrt wieder Ruhe ein. Allerdings ist das 1929 komponierte Stück sowieso recht schwer zugänglich, übersetzt es doch bisweilen gregorianische und andere alte Melodien in die Harmoniewelt des mittelfrühen 20. Jahrhunderts, und so entsteht eine nicht selten recht herbe Klangsprache vor allem in den Chorpassagen, die nicht selten a cappella bleiben, während die Instrumentalisten oftmals nur Interludien zu spielen haben und sich nur gelegentlich mit den Sängern zu gemeinsamem Tun vereinen. Angelico verrät auch hier ein gutes Händchen für die Formung der Chorklänge (für die einstudierungstechnisch Philipp Ahmann das Fundament gelegt hat), kann allerdings auch nicht verhindern, daß sich die Komposition irgendwann zäh dahinzuschleppen beginnt und einem trotz diverser guter Einfälle viel länger vorkommt als die angegebenen 25 Minuten. Erst im Gloria kommt wieder richtig Spannung auf, wenn das bis dato beschäftigungslose Klavier und die Triangel eingreifen und die Musik einen triumphalen Charakter annimmt, der nur den Nachteil hat, daß man das Holz dort so gut wie gar nicht mehr hört. Von den Solisten führt Yongkeun Kim einen schön weichen, aber bedarfsweise auch mehr Energie transportierenden Tenor ins Feld. Manja Raschka bietet einen leicht gedeckten und gleichfalls sehr schönen Mezzosopran, der nur die Spitzentöne ein wenig zu dominant gestaltet. Lisa Maria Rothländer steht mit ihrem hellen, aber nie nervenden oder zu vibratolastigen Sopran vor der größten Herausforderung des Stückes: Nach viertelstündiger Sangespause muß sie kurz vor Ende gleich mit ultrahohen Tönen beginnen und diese dann noch steigern - eine extrem schwierige Aufgabe, der sie sich aber sehr achtbar entledigt. Auch den fragilen Schluß muß man erstmal so hinbekommen wie Angelico und seine Mitstreiter - und wundersamerweise stört kein Huster die aufgebaute Spannung. Der Applaus ist herzlich, aber kurz.
Im Gegensatz zu Puccinis Gloria stammt dasjenige von Gioachino Rossini aus der Zeit, als er als Opernkomponist bereits in Rente gegangen war und nur noch aus Spaß an der Freude Stücke komponierte, die zu seinen Lebzeiten aber nicht öffentlich aufgeführt werden durften, außer bei privaten Feierlichkeiten des Komponisten. Zu diesen Stücken zählt auch die "Messa di Milano", deren Gloria nach der Pause erklingt, nun wieder in voller Orchesterbesetzung, aber dafür nur mit Männerchor auf der Empore. Auch hier braucht es nur wenige Takte, bis der Hörer erkennt, daß er italienische Oper vor sich hat - und zwar komische, wie spätestens mit den "Pax"-Einwürfen deutlich wird. Auch das Laudamus aus einem ruhigen Gestus urplötzlich locker-flott werden zu lassen ist nur mit einem gewissen Hang zum komischen Fach erklärbar, während das fragile Finale des Gratias durchaus andere kompositorische Qualitäten verlangt und an diesem Abend leider einen Tick zu hart genommen wird, allerdings auch wieder unter den Störgeräuschen aus dem Publikum zu leiden hat. Im Qui tollis gesellt sich Konzertmeister Andreas Hartmann zur bisher vierköpfigen Solistenriege und liefert sich leidenschaftliche Soloduelle mit Altistin Alexandra Schmid, die in den Tiefen zum Wegbrechen neigt, aber sonst eine schöne Stimme besitzt. Die beiden Tenöre Nico Eckert und Hwan-Cheol Ahn fallen nicht weiter auf, und Bariton Felix Plock hat die markanteste der Männerstimmen, die für ihn auch nicht zu tief liegt. Im Quoniam fordert Angelico von seinem Orchester mehr Leichtigkeit, und die bekommt er auch, und der vielschichtige Schlußsatz endet zwar nicht im Triumph, besitzt aber trotzdem enormen Unterhaltungswert und setzt dem opernhaften Geschehen den Punkt aufs i.
Ebenfalls in Rossinis Spätwerk-Konvolut findet sich "La notte del Santo Natale", ein kurzes Weihnachtsstück für eine reduzierte Besetzung, wobei die nicht benötigten Orchestermusiker diesmal aber sitzenbleiben. Dafür kommt eine Kammerchorbesetzung von je sechs Herren und Damen nach unten auf die Bühne, und ansonsten spielen nur ein Klavier und ein Harmonium, während Gun-Wook Lee als Baßsolist die zentrale vokale Rolle übernimmt und den Hörer zum Staunen bringt, wo der schmächtige Mann, der vermutlich zweimal in Gunther Emmerlich hineinpassen würde, die Power hernimmt, die ganz tiefen Passagen zumindest fast paßgenau zu treffen. Das eher flockige Klavier kontrastiert wirkungsvoll mit diversen eher fragil-ätherischen Chorpassagen, und gegen Ende sind sich Lee und der Chor leider bisweilen eher uneins über die Tempofeinjustierung, was dem generell positiven Eindruck etwas abträglich ist.
Das einzige Instrumentalstück im Programm stammt wieder von Respighi: "La fuga in Egitto", ein 1919 geschriebenes Klavierstück, das sechs Jahre später zum Orchesterwerk ausgebaut wurde. Hier dominieren breite, fast impressionistisch anmutende und sich eher ruhig entwickelnde Klangwelten, die irgendwie so gar nicht zum (erst nachträglich hinzugefügten) Werktitel passen wollen, der übersetzt "Die Flucht nach Ägypten" bedeutet. Ob der fies dröhnende Gong eine diesbezügliche Gefahr assoziieren soll, darf diskutiert werden, aber die zentrale Dramatiksteigerung kommt ohne sein Zutun aus. Es entwickelt sich klassischer Dunkelbombast, in dem sich leider bisweilen Hörner und Holz behaken und der letztlich nach sechs Minuten Gesamtspielzeit wieder in einen friedlichen und fragilen Schluß mündet.
Auch der eingangs erwähnte Giuseppe Verdi hat neben dem Requiem noch weitere Kirchenmusik geschrieben, und sein Te Deum, ein Spätwerk, steht als letztes Stück des Abends an. Den operesken Charakter hört man hier spätestens, wenn die Piano-Gesänge der Chorherren vom bombastischen Sanctus-Weckruf niedergemäht werden, und auch wenn es während der weiteren Viertelstunde etwas weniger schroff zugeht, so bleibt doch die Vielschichtigkeit erhalten und das Werk enorm spannend, weil man als Nichtkenner des Stückes quasi nie vorhersehen kann, was als nächstes aus der großen Wundertüte des Komponisten gepurzelt kommt - und wundersamerweise paßt das alles auch noch prima zusammen. Dazu gesellt sich die über weite Strecken kongeniale Wiedergabe dieses Abends, so daß etwa "Patrem immensae maiestatis" wie aus Stein gemeißelt klingt, während "Dignare Domine" mit seinen Posaunen- und Kontrabaßstrukturen den Geist des Generalbaßzeitalters revitalisiert. Leider geht im Schlußteil die allgemeine Konzentration etwas flöten und daher so mancher Einsatz daneben, aber das trübt den sehr positiven Gesamteindruck eher wenig, zumal in den letzten Takten dann wieder alles stimmt: Bombastdurchwirkter, aber zerklüfteter Lärm zerbricht schrittweise, und nach dem Ende der schleifenden Violinen setzen die Celli mit einem dunklen Ton den letzten Punkt. Das sorgt für viel verdienten Applaus und untermauert die Erkenntnis, was es im Schaffen scheinbar wohlbekannter Komponisten noch so zu entdecken gibt.



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