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Rachmaninow Vesper   02.12.2016   Leipzig, Peterskirche
von rls

Ungefähr quartalsweise lädt der MDR Rundfunkchor zum Nachtgesang in die Peterskirche ein - ein Spätkonzert, 22 Uhr beginnend, bei freiem Eintritt und mittlerweile Kultstatus genießend, nicht nur, aber nicht zuletzt bei der jungen Generation, der ein später Konzertbeginn gut in den normalen Lebensrhythmus paßt. Als der Rezensent kurz vor 22 Uhr eintrifft, ist der ebenerdige große Kirchenraum bis auf den letzten Platz besetzt und die Orgelempore gleichfalls, so daß alle Spätkommer nur noch auf den Seitenemporen Platz finden (und sich dort sehr disziplinieren müssen, denn die alten Kirchenbänke geben bei jeder Bewegung knarrende Geräusche von sich).
Selbige Geräusche sind im Konzert dieses Abends, wenn sie denn auftreten, prima geeignet, um die Kontemplation zu stören. Es erklingt nämlich Sergej Rachmaninows Opus 37, original "Wsjenochnoje Bdenie" betitelt, was übersetzt "Ganznächtliches Wachen" bedeutet. Da eine Aufführung dann unter normalen Umständen aber schwierig würde, dauert das in fünfzehn Sätze gegliederte Werk "nur" 70 Minuten und ist in einen Eröffnungssatz, fünf Sätze für den Abend- und neun für den Morgengottesdienst gegliedert, woraus sich der gängige Titel "Das große Abend- und Morgenlob" erklärt, während der eingebürgerte Kurztitel "Vesper" eher irritierend wirken kann. Das Werk ist, wie es für liturgische Stücke der orthodoxen Kirchen üblich ist, a cappella gehalten und in Leipzig nicht unbekannt: Howard Arman hatte es anno 2000 ebenfalls mit dem MDR Rundfunkchor zur Aufführung gebracht, allerdings nicht im Beisein des Rezensenten, der es an diesem Abend zum ersten Mal live hört. Zwar sitzt er links auf einer Seitenempore ohne Direktblick zum Chor und akustisch sicher eher suboptimal, aber dem musikalischen Eindruck tut das nur winzigen Abbruch, und der besteht auch lediglich darin, daß die Texte (im Programmheft als deutsche Übersetzung abgedruckt), die sowieso schon in Kirchenslawisch gehalten sind, das sich vom gängigen Russisch in gewisser Weise unterscheidet, dadurch noch schwieriger verständlich werden, wenn man tatsäächlich den Ehrgeiz besitzt, sie im Original entschlüsseln zu wollen. Zum Nachvollziehen, welcher liturgischen Handlung die einzelnen Sätze zugeordnet sind, reichen die Übersetzung bzw. der Einführungstext im Programmheft natürlich voll und ganz aus. Überwiegend handelt es sich um reine Chornummern, lediglich in einem Satz wird eine Altsolostimme besetzt (Klaudia Zeiner mit wunderbar warmem, aber dennoch gegenüber dem Chor problemlos durchsetzungsfähigem Timbre) und in dreien eine Tenorsolostimme (Falk Hoffmann, stimmlich auch schön, aber vom Chor öfter klanglich zugedeckt). In den allermeisten Fällen spielt Dirigent Risto Joost aber sehr gekonnt auf der Dynamikklaviatur, und trotz einiger weniger etwas zu ausfasernder Einsätze unterstreicht der MDR Rundfunkchor einmal mehr, wieso er zu den Besten seiner Zunft gehört. "Das war wie ein Kammerchor", meint eine hübsche Dunkelhaarige in der Reihe vor dem Rezensenten, und sie meint das nicht etwa als Kritik, daß die riesige Besetzung des Chores etwa energetisch geschlappt hätte, sondern als Kompliment für die Homogenität des Gesanges, die naturgemäß mit jedem zusätzlichen Sänger immer schwieriger herzustellen ist, zumal bei einem A-Cappella-Werk ja auch noch jeder unsaubere Einsatz viel deutlicher herauszuhören ist als bei begleiteten Chorwerken oder gar Chorsinfonik. Und wie die Herren die absteigende Linie im Finale von "Nyne otpushchayeshi" samt der anschließend geforderten Abgrundtiefe hinbekommen, das stellt ihnen ein exzellentes Zeugnis aus - viel fehlt hier an Tiefenpower nicht, daß man der Illusion erläge, hier einen Chor aus Wolgatreidlern mit entsprechenden Pferdelungen vor sich zu haben, und das bleibt nicht die einzige Stelle, wo solche Tiefen gefordert sind. Lediglich das Morgenfinale und damit auch Finale des ganzen Stückes, "Vzbrannoy voevode", hätte man sich an einigen Stellen noch einen Tick druckvoller gewünscht, aber das zählt als Jammern auf enorm hohem Niveau, und das Publikum spendet so viel begeisterten Applaus, daß - für eine derartige Aufführung eher ungewöhnlich - noch eine Zugabe erklingt, nämlich eine Wiederholung von "Bogoroditse Devo, radujsja", dem Finale des Abendteils der Komposition, was inhaltlich aber wieder paßt, denn so wird das Publikum mit genau dem "richtigen" Werk in die Nacht entlassen, ob es dort nun zu wachen gedenkt oder nicht. www.mdr-konzerte.de hält den Interessenten über weitere "Nachtgesang"-Konzerte auf dem laufenden.



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