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Playground V "Latin Baroque"   18.-20.11.2016   Weimar, Monami
von jmt

The Playfords, benannt nach der 1651 erschienenen Sammlung "The English Dancing Master" von John und Henry Playford, haben sich in den 15 Jahren ihres Bestehens in der Alte-Musik-Szene einen wohlverdienten Ruf erspielt. Annegret Fischer (Blockflöten), Benjamin Dressler (Viola da Gamba), Björn Werner (Gesang), Erik Warkenthin (Barockgitarre und andere Zupfinstrumente) und Nora Thiele (Perkussion) pflegen einen sehr frischen, spielerisch-ungezwungenen, unakademischen, antimusealen Umgang mit Musik aus Renaissance und Frühbarock, sie verbinden authentische Interpretation auf historischen Instrumenten mit Begeisterung für internationalen Folk und Spaß am freien Improvisieren; von ihren thematischen, auch auf CD erschienenen Programmen sei, passend zum Reformationsjubiläum, "Luther tanzt" erwähnt. Seit ihrem 10. Bandgeburtstag richten sie immer an einem Novemberwochenende das Playground-Festival of Early Music Folk mit Konzerten, Instrumental- und Tanzkursen und Jamsessions aus.

Freitagabend: Das 5. Playground-Festival beginnt mit einem Besucherrekord, es müssen noch stapelweise weitere Stühle rangeschafft werden. Wie immer ist die Bühne inmitten des Saales aufgebaut, mit buntem Herbstlaub und Papierschiffchen geschmückte Tische darum gruppiert, das Publikum ist bunt gemischt, alle, wirklich alle Altersklassen sind vertreten, sehr viele haben eigene Instrumente mitgebracht, kleine Kinder lümmeln auf den Couches oder wuseln umher - all das schafft eine familiäre Atmosphäre. Festliche, erwartungsfrohe Stimmung.
The Playfords beginnen ihr Programm "La Flor de la Canela" - südamerikanische Folklore und Improvisation über Barock-Grounds - mit einer Instrumentalimprovisation über traditionellen spanischen Stücken. Mit dem bekannten "Star of County Down" tritt Sänger Björn Werner dazu, sein Bariton wird bald unterstützt durch den Mezzosopran der chilenischen Gastsängerin Luciana Mancini. Sie gestaltet dann mit dunkler, volltönender, raumfüllender Stimme einen großen Teil des Programms. Beim Singen ist ihr ganzer Körper tänzerisch gespannt und in Bewegung. Oft singen auch die Playfords Zeilen oder Wörter mit, fungieren somit nicht nur als exzellentes Begleitensemble, sondern auch als schöner Backgroundchor. Den "Canto en la Rama" führen sie a cappella auf. Zweiter Gast ist die peruanische Tänzerin Luz Zenaida Hualpa García. Relativ klein, mit indianischen Gesichtszügen, straff geflochtenem schwarzen Haar, in leuchtend gelbem Rock zu schwarzem Oberteil, bei späteren Auftritten ganz in Schwarz, mit schwarzem Schleiertuch oder weißem Fächer, tanzt sie mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik kleine Geschichten. Das rhythmische Stampfen ihrer Schuhe erinnert an Flamenco - ist das der spanische Einfluss oder wurde umgekehrt der spanische Flamenco von südamerikanischen Tänzen beeinflusst? Oder sind es gar afrikanische Einflüsse, die nach Amerika und von dort nach Europa gelangten? Aus einem im Programmheft abgedruckten Interview mit Rubén Dubrovsky lerne ich, dass tatsächlich einige europäische (Barock-)Tänze nachweislich auf afrikanische Wurzeln zurückgehen. In "Me giraton ¡Negra!" werden Lucianas Gesang und Luz' Tanz nur von Noras Cajonspiel begleitet, dazu wird gestampft und geklatscht, Sängerin und Tänzerin rufen expressiv: "¡Negra! ¡Negra! ¡Negra!" Beide verfügen gleichermaßen über starke, zu Herzen gehende Ausstrahlung.
Im Verlauf des Abends erfreut immer wieder das sehr schöne, gleichermaßen rhythmische wie melodische Wechsel- und Zusammenspiel von Erik und Benjamin an Gitarre und Gambe. Nora beherrscht virtuos und stilistisch uneingeschränkt alle erdenklichen Arten von Trommeln und sonstigen Perkussionsinstrumenten (nicht verwunderlich, dass sie zu den Gefragtesten ihres Fachs gehört und umtriebig in allerlei Projekten agiert). Annegret improvisiert sich auf ihren Blockflöten allmählich in harmonisch freie Jazzlaune. Gegen Ende des Programms steigern sich die Playfords in der instrumentalen "Folie d'Espane" in irrwitziges Tempo und ernten dafür Jubelrufe. Für das letzte Lied "El Cascabel" ("Die Rassel") greift Erik zur Charango, Nora ratscht und rasselt auf dem Unterkiefer eines Pferdes, alle Akteure jammen ausgelassen. Danach stürmischer Applaus, begeistertes Bravojohlen. Zugabe mit sich einigermaßen gut einfügendem Handyklingelton.
20 Minuten Pause, danach kündigt Nora den nächsten, ebenfalls von vielen sehnlich erwarteten Programmpunkt an: die Early Music Jam Session. Jeder kann mitmachen, jeder ist willkommen, ganz unabhängig vom spielerischen Niveau. Auf der Bühne versammeln sich Barockviolinen, Gamben, Lauten, Theorben, Flöten, Trommeln; auf Stimmton 415 Hertz wird gemeinsam über bekannten Grounds ("Early Music Standards") und südamerikanischen Weisen improvisiert. Violinist Michael Spiecker moderiert zurückhaltend, spielt die Grundmuster an, animiert einzelne Musiker zu Soli, lässt verschiedene Instrumentengruppen klanglich hervortreten und verhilft so dem bunt zusammengewürfelten Ensemble zu einem dynamischen, abwechslungsreichen Gesamtklang. Rubén Dubrovsky mit seiner Charango bringt uns einige südamerikanische Weisen bei. Kleine Kinder wuseln mit Rasseln umher, fröhliche Tänzer finden sich, angeleitet von Luz und Luciana, auf dem Parkett ein. Erst weit nach Mitternacht gehen wir auseinander.

Samstagabend: Konzert mit dem Bach Consort Wien unter Leitung von Rubén Dubrovsky. Für das Programm "Vidala" besann sich der Ensembleleiter der Volksmusik seiner argentinischen Heimat, tauschte den Dirigentenstab gegen die Charango, eine kleine doppelchörig besaitete Gitarre mit dem Korpus aus dem Panzer eines Gürteltiers, und begibt sich mit seinen Mitmusikern (Agnes Stradner, David Drabek: Barockvioline, Daniele Caminiti, Mirko Arnone: Theorbe, Barockgitarre, Colascione, Salvador Toscano: Bomba, Perkussion) auf musikalische Forschungsreise: Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen südamerikanischer Musik und europäischer Barockmusik sollen hörbar gemacht werden. Mit der Eroberung Amerikas gelangten spanische und portugiesische Zupfinstrumente dorthin, afrikanische Sklaven brachten ihre Musikkultur mit, diese Einflüsse vermischten sich mit der Musik der amerikanischen Ureinwohner, Neues entstand, das nach Europa zurückwirkte. Die Vidala z.B. ist ein von Schlagzeug begleiteter Klagegesang, der durch Überlagerung von Zweier- und Dreiermetrum gekennzeichnet ist - diese rhythmische Überlagerung fand auch in die europäische Barockmusik Eingang.
Es erklingt schöne, lebensfrohe südamerikanische Musik auf Barockinstrumenten. Geiger und Trommler bewegen sich souverän durch vertrackte Rhythmen. Rubén spielt nicht nur sehr expressiv und mit lustigen tänzerischen Bewegungen Charango, Barockgitarre und fünfsaitiges Barockcello, er führt auch sehr unterhaltsam und mit vielen Späßen durch das Programm. Die Charango und ihre Begleiter müssen oft nachgestimmt werden - Rubén kokettiert: "Sein halbes Leben verbringt der Musiker mit Stimmen, in der anderen Hälfte spielt er auf einem verstimmten Instrument." Luciana tritt wieder als Sängerin in Erscheinung. Luz tanzt zur Zamba (nicht zu verwechseln mit der brasilianischen Samba, "zambo" = Mischung aus indio und negro), einem sehr berührenden, nur von Trommel und Zupfern begleiteten Gesang. Ansonsten animiert sie immer wieder aus dem Publikum heraus zum rhythmischen Mitklatschen. Salvador spielt auf der Bomba, einer in Südamerika verbreiteten, sehr wahrscheinlich aus Afrika stammenden Trommel, häufig virtuose Soli. Nora bekommt einen "Freifahrtschein" - immer wenn es ihr in den Fingern zuckt, soll sie auf die Bühne kommen und mittrommeln. Zu dritt spielen sie (Cajon), Salvador (Bomba) und Rubén (Cello) eine freie Improvisation - "wir haben uns nur ausgemacht, dass wir uns nichts ausmachen" und "wer sich zuerst bewegt, hat verloren." Der Spruch gefällt unserem Sohn, der heute mitgekommen ist (wieder ein sehr familienfreundlicher Abend mit vielen Kindern). Zum Schluss werden alle Playfords für ein gemeinsames Lied mit auf die Bühne geladen.
Nach dem Konzert kündigt Nora wieder die Jam Session an, muss nicht viel dazu sagen, denn "jetzt wisst ihr ja, wie's läuft".
Waren wieder sehr schöne Konzerte, Gesang und Tanz und gemeinsames Musizieren auf dem Playground-Festival; einziger Kritikpunkt: Im Programmheft, das immerhin ein Interview mit Rubén Dubrovsky und die Liedtexte des Playford-Programmes enthält, hätte ich mir auch Informationen über die anderen beteiligten Musiker und Tänzerin Luz sowie einen Quellennachweis des Titelbildes gewünscht.
Trotz großer Publikumsresonanz wäre ein Festival mit solch hochkarätigen Gästen ohne die Förderung durch verschiedene Stiftungen/Sponsoren nicht möglich - hoffen wir, dass diese Quellen nicht versiegen, so dass Playground auch fürderhin mit großartigen Programmen aufwarten kann.
Fotos und weiterführende Informationen gibt es hier:
http://www.playgroundfestival.de/2016.html



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