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Suchtpotenzial   17.11.2016   Jena, Paradiescafé
von jmt

Viele Jenaer Eltern kennen das Paradiescafé mit seinem markanten kegelbedachten Rundbau dank seiner strategisch günstigen Lage unmittelbar neben dem großen Paradiesspielplatz. Dass es auch eine passende Bühne für Kleinkunstveranstaltungen bietet, davon konnte ich mich an diesem Abend mit Suchtpotenzial überzeugen.
Mit ca. 70-80 mitteljungen bis mittelalten Gästen ist der runde Saal gut gefüllt. Halblauter Mainstream-Pop rieselt aus den Lautsprechern. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich in den zwei neben dem Einlass stehenden gekämmt-geschniegelt-gepflegten jungen Damen die zugedröhnt von den Plakaten schielenden zerzausten Gestalten mit verwischtem Make-up wieder. Nahezu pünktlich kurz nach 21 Uhr betreten sie die kleine Bühne. Nach einführenden Worten und Späßen über ca. 50 Takte Gitarrenintro beginnt das erste Lied, eine Vorstellrunde, Aufzählung all der Schubladen, denen sie nicht gerecht werden ("zu laut fürs Altersheim und zu versaut für den Kindergarten"), denn sie machen: Alko-Pop mit Suchtpotenzial. Julia Gàmez Martin, Berlinerin mit spanischem Migrationshintergrund, singt, röhrt, haucht, stöhnt, rockt mit kraftvoller, vielseitig einsetzbarer Stimme, kaum ein Musikgenre zwischen Operette und Metal, das von ihr nicht trefflich persifliert werden könnte; auch vor exaltierten Tanzeinlagen bis hin zum Spagat schreckt sie nicht zurück. Ariane Müller, aus Ulm/Baden-Württemberg stammend, spielt Keyboard und Gitarre, bedient problemlos jeden Musikstil, spickt ihre Liedbegleitung gern mit musikalischen Zitaten, singt mit dunkler und leicht rauchiger Stimme. Kennengelernt haben sich die beiden in einer Selbsthilfegruppe anonymer Musical-Darsteller, so man ihnen Glauben schenken kann; wieviel von dem, was sie in den ausufernden Plaudereien zwischen und in den Liedern an Autobiografischem von sich preisgeben, frei erfunden ist, vermag ich nicht zu sagen. Haben sie tatsächlich einen fünften Platz in einem Stuttgarter Chanson-Wettbewerb errungen - bei vier Teilnehmern? Fand Katja Ebstein ihr Programm wirklich Scheiße? (Zumindest wird sie sich anderer Worte bedient haben.) Und wie war das mit ihrer dunklen Fahrstuhljazz-Vergangenheit? Ein Körnchen Wahrheit könnte immer dabei sein. Ihre Lieder sind gesungene Karikaturen. Sie behandeln Probleme des Alltags ("Penisneid"), philosophieren über typische Kneipenstammtischthemen ("Sinn des Lebens"), verkehren Fernsehunterhaltungsformate ins Unterhaltsame ("Frau sucht Bauer"), suhlen sich in Klischees: Natürlich wird die Chanson "Marmelade" in Chansonetten-Pose mit frongsösischem accent gesüngen. Julias Gangsta-Rap-Einlage ist Ariane zu frauenfeindlich, gemeinsam erarbeiten sie eine politisch korrekte Fassung und kreieren so den "Gender-Rap". Ernsthafte Betroffenheitslyrik ist die Sache von Suchtpotenzial nicht - nach eigener Aussage machen sie "Musik von Betrunkenen für Betrunkene"; sie sind frech, zotig, lustig. Natürlich wird auch Arianes schwäbische Herkunft weidlich ausgeschlachtet: Nicht nur, dass sie mit ihrem Dialekt über eine wirksame Waffe gegen sexuelle Übergriffe verfügt, auch das problematische Verhältnis zwischen Berlinern und Schwaben kommt zur Sprache - das Friedenslied "Schwabiner" hat aber nicht nur die Versöhnung dieser beiden Ethnien zum Anliegen, alle Menschen sollen in sich gehen, und vielleicht findet ja so mancher Jenenser den Erfurter in sich und lernt ihn zu akzeptieren und zu lieben. Zum Abschluss des regulären Programms, noch nach dem anspruchsvoll gereimten "Danke Jena, es war schön, danke Jena, wir müssen gehn, danke Jena, es war toll, wir hoffen sehr, ihr seid voll", erklingt das wunderschön mit Klavierzitaten aus der "Bohemian Rhapsody" beginnende und endende "Rockstar" inklusive Headbang-Solo und Publikumsbeschimpfung. Der Applaus holt die beiden nochmal für eine Zugabe auf die Bühne; weil bald Weihnachten ist, das Fest des Friedens und der Liebe, singen sie die Hymne "Ficken für den Frieden" - das Publikum wird aufgefordert, den Refrain in Endlosschleife mitzusingen - make love not war!
Auf http://www.suchtpotenzial.com/ kann man diesen Charity-Song anhören und kaufen, Mitglied der Suchtgruppe werden, eine betreute Brauereiführung gewinnen oder sich einfach nur über Schaffen und Lorbeeren von Suchtpotenzial informieren.



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