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Grosses Concert III/2   04.11.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Sozusagen ein panslawisches Programm bringt das Gewandhausorchester zu Gehör, allerdings in durchaus eigentümlicher Ausprägung: Dirigent Jakob Hruska (er verzeihe dem Rezensenten den Verzicht auf alle tschechischen Sonderzeichen, um den Text systemübergreifend problemlos lesbar zu halten) packt gleich mit dem ersten Stück eine faustdicke Überraschung aus, nämlich Modest Mussorgskis "Eine Nacht auf dem kahlen Berge", und zwar nicht in der populären Bearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow, sondern in der Mussorgski-Urfassung von 1867, die damit, soweit das feststellbar ist, ihre Gewandhaus-Premiere erfährt, wohingegen die Rimski-Korsakow-Bearbeitung dort ein regelmäßiger Gast ist und z.B. 1973 unter Igor Markevitch auch für einen Tonträger eingespielt wurde. Der Rezensent hat nachträglich diesen noch einmal in den CD-Schacht befördert - und es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, auch über die größte Äußerlichkeit hinaus, daß Rimski-Korsakow einen mehrminütigen ruhigen flötendominierten Schluß anhängt, während im Original der ganze Spuk plötzlich zu Ende ist. Ansonsten steckt in der Urfassung viel mehr Rasanz und Kantigkeit, das Inferno ist sozusagen ein paar Grad wärmer, und Hruska und das Orchester heizen folglich von Anbeginn kräftig ein, agieren sehr dynamikorientiert, hetzen durch die kleinteilige Struktur und halten, wo nötig, doch alles im Fluß, obwohl Hruska die Generalpausen konsequent durchhalten läßt, was hier und da doch einen Tick zu bemüht wirkt. Dafür entschädigen aberwitzige winzige Flötenbreaks zwischen einzelnen Handlungselementen und ein goldenes Händchen für die Gestaltung eher düsterer Farben. Da nimmt man auch in Kauf, daß die Intensität trotz des fiesen absteigenden Streicher-Unisonogesäges nach hinten eher abnimmt und die Luft heraus zu sein scheint - aber reichlich Applaus für diese Pioniertat haben sich der Dirigent und das Orchester trotzdem verdient.

Die nächste editorische Überraschung folgt auf dem Fuß: Peter Tschaikowskis 1. Klavierkonzert wurde jahrzehntelang üblicherweise in der Drittfassung von 1888/89 gespielt, und erst 2015 legte Kirill Gerstein die Ersteinspielung der Zweitfassung von 1879 vor und führte diese auch wieder in den Konzertsaal ein. Freilich sind die Unterschiede hier nicht so immens wie im ersten Stück des Abends, aber doch feststellbar - und vielleicht sind sie es, die die Beteiligten an diesem Abend so verunsichern. Lange Zeit nämlich musizieren Gerstein und das Orchester nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Hruska wählt eine relativ breite, romantisch geprägte Anlage, hat aber lange Zeit des ersten Satzes damit zu tun, die Orchesterintensität auf ein Maß zu drosseln, daß man vom Pianisten mehr als nur eine Art hintergründigen Mulm hört, sobald mindestens Orchester-Mezzoforte verlangt ist. Aber auch die kammermusikalischen Dialoge des Pianisten mit einzelnen Instrumenten oder Instrumentengruppen wackeln bedenklich, und selbst im langen ruhigen Mittelpart dieses Satzes gelingt zwar die Darstellung großer Entspanntheit, aber das Zusammenspiel verbessert sich trotzdem nicht. Wenigstens hört man danach den Pianisten besser - aber so richtig gut wird die Aufführung doch nur, wenn Gerstein alleine musiziert, und die Kadenz läßt da durchaus Großes ahnen. Aber das Versprechen wird auch im zweiten Satz nicht eingelöst: Da heben die Musiker des ersten Cellopults zu zauberhafter Kammermusik mit Gerstein an, aber dann werden sie sich wieder nicht einig, wenn es an die winzigen Tempovariationen geht, und schon ist all der schöne Eindruck wieder dahin. So geht es leider diesen ganzen Satz noch durch, und erst im letzten Satz hat man zumindest hier und da das Gefühl, die drei Parteien (den Dirigenten inbegriffen) würden besser aufeinander eingehen, auch wenn man gleich wieder eines Schlechteren belehrt wird, wenn da kurz vorm einzelnen Paukenschlag, der in Richtung Finale hinüberwinkt, das Orchester die Steigerung leicht verzögert, während Gerstein das Tempo weiter anzieht. Wenigstens stimmt der Energietransport in diesem dritten Satz, den Hruska zuvor ziemlich gedrosselt hatte, ohne aber dadurch einen Effekt zu erzielen. Seltsamerweise erntet die Beteiligten für die doch eher zweifelhafte Aufführung ziemlich starken Applaus (aber immerhin keine Bravorufe), so daß Gerstein noch ein weiteres Tschaikowski-Stück zugibt. Das heißt "Meditation", obwohl es mit seinen zahlreichen Stimmungs- und Tempovariationen gänzlich ungeeignet für diesen Zweck erscheint. Aber es ist ein hübsches Stück - und es endet im x-fachen Pianissimo. Keiner hustet, die Spannung steht lange und nimmt extreme Ausmaße an - und man fragt sich verzweifelt, warum es solch außerordentlichen Moment erst jetzt gibt und nicht schon in reichlicher Anzahl in den 40 Minuten zuvor.

Im zweiten Konzertteil macht das russische 19. Jahrhundert dem tschechischen 20. Jahrhundert Platz: Bohuslav Martinus sechs Sinfonien sind eher seltene Gäste in deutschen Konzertsälen, und die vierte hat im Gewandhaus bisher wohl ausschließlich Jiri Belohlavek gespielt, zweimal anno 1998 und 2000. Nun hebt also Hruska das Werk seines Landsmanns ein weiteres Mal aufs Pult, wobei der Komponist zur Entstehungszeit 1945 in den USA lebte, weitab vom europäischen Kriegs- und Zerstörungsgeschehen, das ihn zwar auch umtrieb (etwa mit dem Werk "Lidice"), aber keineswegs in jedem Werk Reflexion fand. So läßt Martinu im ersten Satz zunächst weite Landschaften malen, und obwohl Hruska und das Orchester beileibe nicht auf puren Schönklang aus sind und schon die aus dem Ärmel geschüttelte erste Steigerung auch etwas Angriffslustiges hat, so bleibt es doch nicht aus, daß man viele Passagen wirklich mit dem Wort "schön" bezeichnen darf oder muß, je nach Standpunkt. Drüben auf der linken Orchesterempore kuschelt dementsprechend ein Pärchen, und obwohl im Finale des kurzen Satzes mal kurz Dramatik aufkommt, so weicht diese doch sofort wieder einer friedlicheren Stimmung.
Deutlich mehr Dramatik legt der Komponist in den zweiten Satz - der Grundrhythmus hat etwas Motorisches, Treibend-Unbarmherziges und wird von Orchester und Dirigent auch entsprechend interpretiert. Aber trotz der gekonnten Intensitätssteigerung tun sich selbst hier nie Schostakowitsch-kompatible Abgründe auf. Andererseits nimmt das Orchester auch das eigentlich recht liebliche Trio eher spröde-unnahbar, bevor es in witzige Holzkammermusik überschwenkt und nur ganz zum Ende dieses Teils ein Melodieidyll hervorzaubert, das von der Scherzo-Wiederholung aber unbarmherzig niedergewalzt wird. Zwar ist der Überraschungseffekt vom ersten Teil natürlich weg, aber die Qualitäten, die das Orchester hineinlegt, bleiben gleich, die Harmonieentwicklungen sind hochinteressant zu verfolgen, und der Dirigent packt bis zum Schluß des Satzes kräftig zu, während das Pärchen drüben unbeeindruckt weiter kuschelt.
Die hektischen Anfangstöne des Adagios täuschen und machen sofort Platz für neue weite Streicherflächen, die sich langsam entwickeln und düstere Gefilde nur streifen. Intensität bringen Dialogpassagen von Solovioline und Solocello ins Geschehen, und das in dieser Sinfonie besetzte Klavier entfaltet in einigen Breaks strukturtragende Wirkung, ist aber sonst im Gesamtklang kaum wahrzunehmen. Ein finsterer Ausbruch bleibt kurz, folgenlos und mäßig düster, und die Stimmung trübt sich eher dadurch ein, daß der Chor der Publikumskarzinome ausgerechnet die hübschen kammermusikalischen Dialoge zwischen Flöten und Hörnern untermalt. Da kuschelt dann auch das Pärchen gegenüber nicht mehr, während Hruska den Satz über lange mäandernde Flächen zum guten Ende führt.
Nach einem kurzen ersten und zwei ausladenden mittleren Sätzen folgt noch ein kurzer zum Schluß, der mit Düsternis und Dramatik anhebt, aber das Pärchen drüben nicht vom Wieder-Kuscheln abhält. Auch hier wendet sich das musikalische Geschehen bald, allerdings in Richtung freudigen Gehopses, das sich in der Folge mit Midtempo-Mäandern und einigen Steigerungen abwechselt. Ein kurzes Ausbruchsinferno bleibt abermals folgenlos - die Energie nimmt im Finale zwar schrittweise zu, von Hruska geschickt dosiert, aber es ist grundsätzlich positive Energie, und von der gibt's zum Schluß dann eine Großpackung. Feine und interessante Sache, dazu prima dargeboten und trotz Entstehungsjahr 1945 keinerlei schwerverdauliche Experimente enthaltend - nur vom Publikum weit weniger enthusiastisch beklatscht als der Tschaikowski-Reinfall. Komisch ...



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