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Grosses Concert I/2   27.10.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

So ein bißchen skeptisch gegenüber neuzeitlicher Musik, gar noch als deutsche Erst- und wenige Tage nach der Uraufführung, so daß man noch keinerlei Höreindrücke gewinnen konnte, ist der Leipziger von heute ja doch - lange vorbei sind die Zeiten, als eine hier erscheinende Musikzeitung, die Allgemeine musikalische Zeitung, am 22.11.1876 in ihrer Rezension bemerken konnte: "Das fünfte Gewandhausconcert brachte von Orchesterwerken nur Bekanntes und deshalb nichts besonders Besprechenswerthes." Wäre das noch heute Praxis, so wäre die Konzertberichterstattung allgemein sehr viel kürzer ... Aber die Zeiten haben sich geändert, und so zugkräftig die Namen der Künstler dieses Abends auch sind, es bleibt für die dankbare Studentenschaft doch ein erkleckliches Kontingent an Restkarten übrig, und trotzdem sieht man auch etliche leere Plätze im Rund.

Vor dem Problem, vor dem Schreiben des Textes fürs Programmheft noch keinen akustischen Eindruck vom ersten Werk des Abends gewinnen zu können, steht auch Ann-Katrin Zimmermann, und sie löst das Problem, indem sie die Partitur auf mögliche Auffälligkeiten abklopft und dann doch salomonisch schließt: "Vielleicht ist plötzlich alles ganz anders, als man es sich vorgestellt hat." Der Rezensent wiederum hat die Partitur vorher nicht durchgesehen und verläßt sich ausschließlich auf den Programmhefttext und eben den Höreindruck, um Anders Hillborgs 2. Violinkonzert vorzustellen, das wenige Tage zuvor beim Stockholm Philharmonic Orchestra seine Uraufführung erlebt hat und nun als deutsche Erstaufführung an diesem und dem folgenden Abend im Gewandhaus erklingt. Den Solopart bestreitet wie schon in Schweden Lisa Batiashvili, aber als erstes fällt nicht sie auf, sondern das eher sparsam besetzte Orchester: Gerade mal zwei Schlagzeuger sitzen hinten links (die Pauken sind zwar schon fürs andere Werk des Abends aufgestellt, bleiben bei Hillborg aber unbesetzt), und auch sonst herrscht keineswegs spätromantische Üppigkeit. In der Musik auch nicht, wird man nach den 25 durchgehenden und nicht in Sätze unterteilten Spielminuten feststellen - dafür etwas anderes: Hillborg schreibt seine Stücke am Rechner vermittels Sounddesign und "übersetzt" die Klänge erst dann aufs Orchesterinstrumentarium. Außerdem war er früher mal Keyboarder in einer Rockband und hat Schwedens halbe Popwelt mit Hits beliefert - die Theorie, er sei im klassischen Schaffen konsequent entgegengesetzt gepolt, stellt sich als unzutreffend heraus: Nach einleitenden Geigengeräuschen, die an eine vertonte Fernseh-Sendestörung erinnern, treffen sich nämlich alle Saiteninstrumente auf einem ganz streng tonalen Akkord, und der bildet einen Teppich für große Teile der Komposition, während die eingangs erklungenen Geräusche als Gliederungselement zwischen jeweils größeren Blöcken wiederkehren. Wäre das hier U-Musik, würde man Ambient dazu sagen, über den späten Schostakowitsch geht die Experimentierfreude nicht hinaus, und in der Ambient-Harmonik erkennt man den einen oder anderen Anklang an die Anathema der Neunziger. Auch die Violinsolistin hat oftmals etwas zur verträumten Ambient-Stimmung beizutragen, bisweilen muß sie aber auch wild frickeln oder wüten. Der zweite große Block gerät generell ein wenig energischer als der erste, die in München lebende Georgierin und das von Alan Gilbert geleitete Orchester bewerfen sich in klassischer Call-and-Response-Manier mit Phrasen, und der Rhythmus ist so geradlinig, daß des Rezensenten linke Nachbarin mitklopft. Einige der Arpeggien in der Solovioline erinnern an Material, das Hillborgs Landsmann Yngwie Malmsteen aus dem Klassik- in den Rockkontext überführt hatte, und als man sich irgendwann zu wundern beginnt, was die Blechbläser auf der Bühne zu suchen haben, kommen sie kurz vor Schluß dann doch noch mit einigen Akkorden zum Einsatz. Die beschauliche Stimmung verändern sie aber nicht - zwei kleine Ausbrüche bleiben dezent und friedlich, und nur nach dem letzten tritt eine etwas größere cineastische Wirkung ein, bevor das Stück aber unvermittelt endet. Man liest noch einmal überrascht im Programmheft nach: "An Gelegenheiten, Lautstärke und Klanggewalt zu demonstrieren, fehlt es in diesem Werk nicht" steht da - das läßt sich nur mit dem einleitend zitierten "plötzlich alles ganz anders" korrelieren. "Echt schön - das hatte Charme, das hatte Witz" hört der Rezensent aus seiner Umgebung, und die Tatsache, daß das hier sozusagen der Pop der Neuen Musik ist, sorgt für so reichlichen und ausdauernden Applaus, wie man ihn in Leipzig bei Erstaufführungen und generell bei Neuer Musik selten vernimmt. Er reicht sogar, um der Solistin noch eine Zugabe zu entlocken. Einem alten Klischee entsprechend spielt gefühlt jeder Solist im Gewandhaus Bach als Zugabe - und Batiashvili liebt Bach, das ist bekannt. Trotzdem gibt sie etwas ganz anderes zu, nämlich ein Stück eines georgischen Komponisten namens Alexi Matschawariani, das einen interessanten Versuch darstellt, die georgische Vokalpolyphonie auf die Violine zu übersetzen, und vom kundigen Publikum abermals reichlich beklatscht wird.

Alan Gilbert war mit "seinen" New Yorker Philharmonikern anno 2011 beim Internationalen Mahler-Festival im Gewandhaus zu Gast gewesen, aber der Rezensent hatte ihn damals nicht erlebt, und so stellt dieser Abend seine erste Begegnung mit dem Amerikaner und seiner Mahler-Lesart dar. Gespielt wird die 1. Sinfonie Mahlers in der üblichen viersätzigen Form, also ohne den "Blumine"-Satz, und nach den ersten Minuten stehen einem die Haare zu Berge: So untight wie in den diversen kammermusikalischen Einwürfen, die Mahler hier über den, jawohl, Ambient-Teppich legen läßt, hat man die Holzbläser des Gewandhausorchesters selten einmal hören müssen, und auch diverse andere Instrumentengruppen lassen sich von der Nervosität anstecken. Trotz wirklich schöner Klangwirkungen treten dem Hörer Schweißperlen auf die Stirn, die erst im ersten Tutti verschwinden: Plötzlich legt irgendjemand einen Schalter im Orchester um, und genauso plötzlich klappt in der ganzen noch folgenden Dreiviertelstunde alles mit der traumwandlerischen Sicherheit, für die man dieses Orchester so liebt. Erleichtert lehnt man sich zurück und beginnt jetzt die beiden Aspekte noch stärker wahrzunehmen, durch die sich Gilberts Interpretation an diesem Abend auszeichnet. Zum einen legt er die Tempogrenzen relativ weit außen: Wenn langsam, dann richtig - aber bisweilen, vor allem im dritten Satz, ist durchaus auch Schnell das neue Langsam, jedenfalls was den unterschwelligen "Zug zum Tor" angeht, und im vierten Satz ist die Geschwindigkeit dann nur noch als aberwitzig zu bezeichnen - aber mit diesem Orchester geht das eben auch, ohne daß das Ganze im Klangbrei endet. Denn, und das ist der zweite Aspekt: Diese Mahler-Interpretation setzt neue Maßstäbe in Klangtransparenz, und der Hörer staunt einen Bauklotz nach dem anderen, wenn er Details hört, die er in diesem Werk sonst noch nie wahrgenommen hat. Das ist ungefähr der antagonistische Ansatz zu Riccardo Chaillys Mahler-Herangehensweise, aber ein nicht weniger faszinierender, und es gereicht dem Orchester zur Ehre, daß es diese beiden Wege völlig selbstverständlich zu gehen imstande ist, je nachdem, mit welchem Dirigenten es gerade arbeitet. Den zweiten Satz etwa hat man wohl noch nie derart leichtfüßig schwingend gehört, selbst das raumgreifende Tiefstreicherriff schwebt 20 cm über der Bühne, und das brillante Tempomanagement auch auf kleinsträumiger Distanz erfährt etwa in der Beschleunigung im Trio ein hervorragendes Zeugnis. Was für Ruhe Gilbert dann ins Adagio legen läßt, aber trotzdem mit unterschwelligem Zug zum Tor, mit urböhmischem Kolorit und kurzen extremen Düsteranflügen vor der Wiederkehr des "Bruder Jakob"-Themas, das muß ohne Zweifel mit dem Prädikat "Weltklasse" geadelt werden, und hätte es nicht das Holz an zwei Stellen mit dem Vorwitz übertrieben, es wäre Perfektion festzustellen gewesen. Dafür, daß diverse Karzinomgeplagte im Publikum ausgerechnet den entrückten Satzausklang torpedieren, können die Musiker ja nichts. Aber da ist ja noch der letzte Satz. Dessen einleitendes Klangvolumen macht deutlich, daß Gilbert immer noch ein paar Reserven in der Hinterhand behält. Und wie man selbst in der größten Schroffheit noch Transparenz hinbekommt, dafür liefern Dirigent und Orchester an diesem Abend ein Musterbeispiel - oft versucht, selten bis fast nie erreicht, aber diesmal schon. Aber Gilbert bringt noch ein anderes Kunststück fertig: Er läßt das Orchester energisch zupacken, drosselt den Energietransport aber trotzdem, bis er alles in einen extremen Energiefluß münden läßt, der die letzten vielleicht 10 oder 15 Sekunden des Werkes einnimmt und trotzdem nicht in puren Lärm ausartet, sondern die vielgerühmte Transparenz noch ein letztes (und schwierigstes!) Mal von der Bühne in die begeisterten Reihen schickt. Das sorgt für sofort losbrechenden intensiven und langanhaltenden Applaus, und wäre da nicht die unerklärliche Schwäche der ersten Minuten, man müßte ohne Wenn und Aber von einer Referenzaufführung sprechen. Aber auch so zieht das Publikum hochzufrieden von dannen.



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