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Kommilitonen!   01.06.2016   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Hatten sich die Opernprojekte der Leipziger Hochschule für Musik und Theater in den letzten Jahren eher zeitlich weiter zurückliegendem Repertoire gewidmet, so ändert sich das anno 2016: "Young Blood!" von Peter Maxwell Davies auf ein Libretto von David Pountney ist ein erst im 21. Jahrhundert entstandenes Stück, das unter dem Titel "Kommilitonen!" (der nicht ganz so viele Fehldeutungsmöglichkeiten zuläßt wie der originale) an sechs Abenden im Großen Saal des Hochschulhauptgebäudes seine Deutschlandpremiere erlebt. Dem Komponisten selber entgeht diese allerdings - er ist erst vor wenigen Monaten verstorben. Aber zumindest mit der musikalischen Leistung, soviel sei vorweggenommen, wäre er sicherlich zufrieden gewesen.
Die Oper besteht aus drei Handlungsebenen - alle haben mit Studenten zu tun, die sich mit allerdings völlig unterschiedlichen repressiven Systemen konfrontiert sehen: Der Schwarze James Meredith will in Mississippi studieren, aber das wird ihm verweigert, und nur unter dem Schutz der Nationalgarde kann er sich letztlich doch immatrikulieren. Die Widerstandaktivitäten der Geschwister Scholl (aus deren Flugblättern auch der deutsche Titel der Oper stammt) gegen den Nationalsozialismus sind hierzulande ja theoretisch allgemeines Bildungsgut, wenngleich offensichtlich in letzter Zeit zumindest aussagetechnisch etwas in Vergessenheit geraten. Als dritte Komponente tritt die chinesische Jugend während der Kulturrevolution hervor, die über das eigentlich von der Partei- und Staatsführung angestrebte Ziel gnadenlos hinausschoß. Während Gewalt als Mittel hier völlig selbstverständlich in die Überlegungen und Handlungen einbezogen ist, sah die Scholl-Gruppe ihr Ziel im geistigen Widerstand gegen den herrschenden Ungeist. Meredith wiederum steht ambivalent da, denn nur durch Gewaltandrohung und partiell auch -ausübung seitens des Staates kann er sein Studium gegen alle Rassenschranken aufnehmen. Diese drei Ebenen werden auf einem gleichfalls drei vertikale Ebenen umfassenden Bühnenturm dargestellt, anfangs im Wechsel, später aber auch verquickt, wobei die Initialzündung für die Verquickung ausgerechnet von Fjodor Dostojewski ausgeht, dessen Szene aus "Der Großinquisitor", wo ebenjener auf Jesus einredet, warum dieser noch einmal auf die Erde zurückgekehrt sei und die Kreise der katholischen Kirche störe, einen Dreh- und Angelpunkt des zweiten Aktes darstellt - aus jeder der drei Ebenen wird ein Akteur Zeuge des Monologs des Großinquisitors. Interessanterweise bleiben die sich daraufhin entwickelnden Querverbindungen zwischen den drei Ebenen viel loser und beliebiger, als das Programmheft erwähnt: Zwar wird auch weiterhin hier und da der eine oder andere Zeuge von Handlungen der anderen, aber gegenseitige Beeinflussung findet nicht statt, alle Welten entwickeln sich autark, alle drei Ergebnisse sind verschieden, und Lösungen der Konflikte gibt es schon gar keine.
Das Interesse fokussiert sich also eher auf die Details als aufs Ganze - und da hat die Kreativfraktion etliches aus dem Zauberkästchen geholt, aber nicht durchgängig. Zunächst verwundert die Entscheidung, Steffen Piontek nur Teile des Librettos übersetzen zu lassen: Die Scholl-Gruppe spricht und singt Deutsch, die Chinesen auch, Meredith und sein einziger Ko-Spieler Pokayne bleiben aber beim Englischen, was dazu führt, daß ohne Übertitel und angehörs der nicht immer leichten Verständlichkeit des Gesanges der Hörer zu ihm eine viel größere emotionale Distanz wahrt, wenn er den Kern des Problems, der in der Bühnenhandlung eigentlich nur angerissen wird, überhaupt zu verstehen bzw. zu erkennen in der Lage ist. Dafür ist Maxwell Davies' Wahl der musikalischen Mittel interessant: Oftmals fühlt man sich an Britten erinnert, aber die chinesischen Kulturrevolutionäre etwa paradieren zur Musik einer völlig unkommunistischen Marching Band, deren Mitglieder übrigens nicht im Orchestergraben sitzen, sondern rechts oben auf der Empore. Eine schwierige Sache ist's mit dem Humor: Lacht man, wenn man die eben geschilderte Konstellation begriffen hat, innerlich lauthals, so wirkt der Humor von Regisseur Matthias Oldag, wenn er den Ku-Klux-Klan eine Tierfabel singen läßt, wie eine halbherzige Antwort auf die Schlußszene von "Das Leben des Brian". Hochgradig zu überzeugen wissen dagegen die Chornummern, und das sowohl gesanglich (bedarfsweise wird auch aus den Publikumsreihen heraus gesungen, was gerade in der Scholl-Verfolgung eine starke Wirkung hinterläßt) als auch darstellerisch (der Chor muß sich teilweise blitzartig aus einer der drei Ebenen in eine andere transferieren). Die Drei-Ebenen-Struktur des Bühnenturmes bietet vielfältige Möglichkeiten, die Oldag und sein Kreativteam zumeist mit sicherer Hand zu nutzen wissen - von daher mutet es umso seltsamer an, als die beiden während der Kulturrevolution ermordeten Chinesen plötzlich mirnichtsdirnichts auf offener Szene aufstehen, die verwüstete Räumlichkeit zumindest partiell aufräumen und dann abgehen. Daß Sophie Scholl schon umfällt und stirbt, bevor überhaupt der ihr zugedachte Schuß fällt, dürfte sicher auch keine Absicht gewesen sein. Ein ganz anderes Problem bleibt bis zum Schluß ungelöst: Agieren Sänger auf der obersten der drei Ebenen, hört und versteht man sie fast immer ziemlich schlecht - ihre Stimmen kommen nicht übers Orchester hinweg (interessanterweise mit Ausnahme der Schlußszene von Akt I, als per Videoeinspielung eine Mao-Statue errichtet wird). Von daher wäre es ungerecht, Wertungen der Sänger abzugeben. Dirigent Damian Ibn Salem, der nur diese eine der sechs Vorstellungen leitet, meistert die durchkomponierte, stilistisch enorme Vielseitigkeit verlangende Partitur in nicht perfekter, aber doch sehr achtbarer Weise, und das studentische Orchester folgt den verlangten Wendungen in gekonnter Manier.
Am Ende steht man vor dem Kuriosum, daß das Programmheft deutlich mehr Aspekte, Anknüpfungspunkte und Problemfälle aufzeigt als die Inszenierung selbst. Ob das so gewollt war, muß offenbleiben. Der bis auf den letzten Platz gefüllte Große Saal (und das bei der fünften Vorstellung einer modernen Oper!) applaudiert jedenfalls fleißig.



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