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6. Philharmonisches Konzert   24.03.2016   Gera, Theater
von rls

"Stopp" steht in großen Letter auf den Protestpostkarten, die einen weiteren Stellenabbau im Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera, der wie ein Damoklesschwert über dem Klangkörper schwebt, verhindern helfen sollen und die gleich an mehreren Stellen im Geraer Theater verteilt werden. Fakt ist jedenfalls, daß mit einer weiteren personellen Reduzierung groß besetzte sinfonische Werke wie etwa Bruckners Neunte an diesem Abend (und dem vorausgegangenen und folgenden - wie üblich gibt es das Programm zweimal in Gera und einmal in Altenburg), die schon so nur mit zusätzlich angeheuerten Aushilfskräften stemmbar sind, noch weiter in Richtung eines unmöglichen oder nur noch äußerst selten stemmbaren Kraftaktes rücken. Und das wäre schade und würde wieder ein Stück kulturelle Verarmung bedeuten - nicht jeder hat ein A-Orchester in Reichweite und kann sich die betreffenden Werke dann eben dort anschauen ...
Mit einer etwas kleineren Orchesterbesetzung kommen Richard Wagners Wesendonck-Lieder aus, die, nachdem sie ganz ursprünglich mal Klavierlieder waren, von Felix Mottl orchestriert wurden. Nun ist hier die Lage natürlich anders als bei einer großen Bruckner-Sinfonie: Auch wenn Mottl zur Generation der Materialschlacht-Spätromantiker gehörte, wußte er natürlich sehr genau, daß man das Orchester nicht so anlegen darf, daß es die Sängerin von vornherein akustisch zudeckt (ein Problem, auf das interessanterweise Wagner selbst in seinen Opern nicht immer Rücksicht genommen hat). Ein glückliches Händchen beim Gestalten braucht der Dirigent natürlich trotzdem immer noch, aber das hat der hiesige Generalmusikdirektor Laurent Wagner (mit dem Komponisten, soweit bekannt, weder verwandt noch verschwägert) zweifellos, wenn man die Leistung dieses Abends zum Maßstab nimmt: Anne Preuß besitzt durchaus keine alles durchdringende Stimme, sondern einen leicht gedeckten, angenehm zu hörenden, wenngleich keine Bäume ausreißenden Sopran, aber sie läuft nirgendwo Gefahr, sich gegen die Instrumentalisten nicht durchsetzen zu können. Freilich brauchen beide Parteien auch einige Zeit, um zueinander zu finden, und agieren im ersten der fünf Lieder, "Der Engel", lange Zeit eher neben- als miteinander. Das Ganze gerät ziemlich hochromantisch, sowohl textlich als auch musikalisch, und wenn Wagner die Sängerin bei "hebt" in die Höhe schickt, mutet das schon fast wie Holzhammerromantik an. Richtige Symbiose gibt es zwischen Preuß und dem Orchester erst gegen Ende von "Der Engel", das gekonnt verklingt - und von da an funktioniert das Miteinander deutlich besser, etwa gleich im folgenden "Stehe still!", wo Orchester und Sängerin während der ersten beiden Strophen geplant nervös agieren müssen und das auch in perfekter Weise tun, bis der Komponist plötzlich Tempo herausnehmen läßt und eine Art verklärt-epischen Triumphschluß im Piano (nein, das ist kein Oxymoron) fordert, den die Beteiligten an diesem Abend auch liefern. "Im Treibhaus" düstert sich durch den Raum (auch wenn man sich fragt, wieso eigentlich), die Streicher säuseln, und wenn man die zu grellen Flöten ausblendet, gelingt ein zauberhafter Schluß. "Schmerzen" ist das einzige der fünf Lieder mit etwas voluminöserem Orchestereinsatz, aber hier gilt die eingangs getroffene Feststellung, daß Laurent Wagner Felix Mottls Aufgabenstellung problemlos zu lösen imstande ist, und das kurze Stück endet schließlich in purem Sonnenschein. Die größte Herausforderung lauert aber im abschließenden "Träume": Düsternis und Vorwärtsdrang sind nicht leicht zu kombinieren, aber an diesem Abend gelingt das ebenso prima wie die doppelte Wandlung erst in einen Stimmungsaufheller und dann in die große Melancholie der letzten Strophe samt langem Orchesternachspiel, das in die Stille zu mäandern scheint. Dementsprechend entsteht eine lange Applauspause, aber die Sängerin erntet danach auch einige Bravorufe.
Zur zweiten Konzerthälfte wird die Bühne dann richtig voll - eine Quasi-Demonstration, was jetzt (gerade noch) geht und mit weiterem Stellenabbau dann wohl nicht mehr ginge. Freilich braucht man für Bruckners Neunte nicht nur viele, sondern auch gute Leute - aber auch solche hat's im Orchester, jedenfalls überwiegend. Klar wackelt's hier und da mal, aber wenn die Trompeten in der Einleitung des ersten Satzes zu trocken agieren, springen halt die Posaunen in die Bresche und holen das Gesamtniveau wieder nach oben. Dirigent Wagner bekommt eine gute Dynamikkurve hin zum Haupthemaausbruch hin und nimmt das zweite Thema schön breit, hat aber damit zu kämpfen, daß sich bei bestimmten Ritardandi nicht immer alle Musiker einig sind. Dafür gelingt der erste große Blechchoral wirklich zauberhaft, was freilich nicht auf alle weiteren des ersten Satzes zutrifft. Lehrbuchreife Tempovariationen wissen aber ebenso zu überzeugen wie die an der Dissonanzgrenze kratzenden Tutti, deren brachiale Wirkung der relativ kleine Konzertsaal hörbar unterstützt. Der Schlußlärm des ersten Satzes gelingt ähnlich umwerfend, auch wenn der Schlußton selbst zu sehr ausfasert.
Die Themenmotorik im Scherzo läßt anfangs noch das Urteil "ausbaufähig" vor dem geistigen Auge des Hörers erstehen, aber Wagner liefert den Ausbau gleich anschließend in der Wiederholung, die deutlich "industrieller" von der Bühne rollt. Wucht und Motorik stimmen auch in der abermaligen Wiederholung nach dem Trio, während dieser Schlußteil insgesamt einen etwas zu unaufgeräumten Eindruck hinterläßt. Im Trio wiederum wählt Wagner ein relativ flottes Grundtempo und hat somit im schwelgerischen Zwischenpart viel Spielraum zur Entfaltung einer Kontrastwirkung, den er vor der besagten Scherzowiederholung auch weidlich nutzt.
Der durch Bruckners Tod und die Verstreuung der Finalfragmente zum ungeplanten, aber dennoch wirkungsvollen Schlußsatz gewordene dritte, das Adagio, stellt jeden Dirigenten vor die Aufgabe, dem Hörer schon in der Einleitung einen Schauer über den Rücken zu jagen. Wagner und sein Orchester lösen diese Aufgabe in bester Manier, bringen auch den hartherzigsten Hörer zum Schmelzen, meistern auch das große Tutti und erzeugen trotz einiger wackelnder Einsätze eine entrückte Stimmung, die einen das penetrante Bonbonpapierknistern aus den hinteren rechten Parkettreihen fast ganz auszublenden hilft. Allerdings nimmt der Dirigent einige der Generalpausen sehr lang und erzeugt damit bisweilen ein vielleicht einen Tick zu schroffes Klangbild, während er im großen Zusammenbruch und der darauf folgenden Generalpause wohl das für diesen Raum herausholbare Optimum findet. Die anschließende friedliche Stimmung wird wieder durch ein paar Wackler im Blech getrübt, aber die Schlußentrückung kann nicht mal der letzte große Blechwackler verhindern - die Atmosphäre paßt auch so haargenau. Viel verdienter Applaus belohnt Wagner und das Orchester, und der bemißt sich keineswegs nur aus dem Umstand, daß man sich nicht sicher ist, ob man dieses Werk von diesem Orchester vielleicht zum letzten Mal gehört hat. www.tpthueringen.de hält den Interessenten auf dem laufenden, wie die Protestaktion und die Personaldebatte weitergehen.



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