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African Oratorio   16.03.2016   Leipzig, Werk II
von rls

Das Interesse von Kristjan Järvi an außereuropäischen Kulturtraditionen und deren Verquickung mit der sogenannten abendländischen ist nicht erst mit seiner Amtsübernahme als Chefdirigent des MDR Sinfonieorchesters entstanden. Einen von vielen Beweisen für diesen Satz findet man im Programmheft dieses Konzertes: Daniel Schnyders afrikanisches Epos "Sundiata Keita", das an diesem Abend im Rahmen des Maskenfestivals, welches das MDR Sinfonieorchester oder einzelne seiner Musiker mit ungewöhnlichen Programmen an ungewöhnliche Spielorte führt, im Werk II aufgeführt wird, hatte anno 2009 seine Uraufführung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin erlebt - und dreimal darf der Leser raten, wer diese Uraufführung des vom Orchester und des Musiksommers Grafenegg 2009 in Auftrag gegebenen Stückes dirigiert hat ... Nun also in Leipzig: Das Werk II ist bestuhlt und anständig ge-, aber keineswegs überfüllt, die Orchestermusiker sitzen an der breitestmöglichen Stelle vor dem eigentlichen Bühnenaufbau, dahinter befinden sich noch die Damen des MDR Rundfunkchores, und vorn zentral ballen sich die Solisten. Die betreten zum ersten Stück schrittweise die Bühne und bauen das noch nicht zu besagtem Epos gehörende, sondern ein malinesisches Traditional darstellende Einleitungsstück "Le Train" fugenartig auf. Zuerst kommt Cherif Soumano mit einer Kora, einem harfenartigen Instrument, das klanglich ganz entfernt an eine Zither erinnert, allerdings wie die Harfe senkrecht gespielt wird. Dann gesellt sich Lansiné Kouyaté zu ihm und nimmt an einer Bala Platz, einer Art Xylophon oder Marimbaphon aus Flaschenkürbissen, Bambus und anderen Naturmaterialien. Mit Kontrabassist Peter Herbert schmuggelt sich ein weißer Solist ein, bevor Michael Wimberly an der Djembe Platz nimmt, gefolgt schließlich vom "Chefsolisten" Abdoulayé Diabaté, dem Griot. Das ist der traditionelle Name des Geschichtenerzählers und -sängers, der über Jahrhunderte hinweg auch in den nicht verschrifteten Sprachen Westafrikas die traditionellen Ergebnisse der Volkspoesie am Leben erhielt und eben aufgrund jener fehlenden Verschriftung eine noch deutlicher herausgehobene Stellung hatte als der Barde anderer Kulturkreise, die zugleich auf das schriftliche Gedächtnis ihrer Welten bauen konnten, wenngleich dieses ständig von physischer Vernichtung bedroht war, was allerdings umgekehrt auch auf die Griots als Personen zutraf. Überlebt hat in Westafrika bis heute das Heldenepos "Sundiata Keita", das sprach- und völkerübergreifend eine zentrale Rolle besitzt und sich damit etwas von ansonsten durchaus vergleichbaren Werken wie der Kalevala oder dem "Recken im Tigerfell" abhebt, die jeweils einer "Titularnation" zuzuweisen sind und außerhalb derselben nur periphere Bedeutung besitzen.
Aus diesem Epos nun hat Schnyder vier Textpassagen entnommen und zu einer Art viersätzigem Oratorium zusammengefügt - der Terminus "Oratorio" taucht im Veranstaltungstitel auf, ansonsten im Programmheft aber nicht. "Sundiata Keita" heißt soviel wie "Der Löwenkönig" und bezieht sich auf einen mythischen, allerdings ein reales Vorbild aufweisenden König des 13. Jahrhunderts, und zwar einen menschlichen - das Stück sollte also nicht mit Tierfabeln der Marke "Der König der Löwen" verwechselt werden. Musikalisch ist der 1961 in der Schweiz geborene Komponist wie auch Järvi schon seit langem als Grenzgänger zwischen allen möglichen Welten bekannt, hat auch eine Zeitlang in Mali gelebt, kennt die Möglichkeiten und Grenzen des Griot-Gesanges und der eingesetzten Instrumente daher sehr genau und schafft es daher, eine hochinteressante Verschmelzung dieser musikalischen Welt mit der eines althergebrachten Sinfoenieorchesters spätromantischer Prägung zu erzeugen. Aber auch er mußte sich offensichtlich erst in die Materie "hineinarbeiten": Im Verlaufe der vier Sätze findet er jedenfalls den Mut zu einer immer größeren Geradlinigkeit und Flüssigkeit im Arrangement des musikalischen Geschehens, während die bisweilen zu spürende Hektik und gewollt wirkende Atonalität vor allem in der ersten Hälfte des Werkes offensichtlich kein handlungsinduziertes Stilmittel darstellt, sondern den Komponisten noch auf schwankendem Boden zeigt, den er erst allmählich verfestigen kann. So wird aus einer Art "Jenseits von Afrika plus Störelemente" mit der Zeit ein gelungenes Ganzes, das die Improvisationsmöglichkeiten der Afrikaner geschickt einbindet, aber auch gängige Elemente der spätromantischen Orchesterkomposition geschickt einzuflechten weiß, wie so manche lehrbuchreife Dramatiksteigerung offenbart. Über die Aussprache des in der Mandingo-Sprache gehaltenen Textes sowohl des Griot als auch des Chores maßt sich der Rezensent natürlich keinerlei Urteil an, aber der Chor bereichert das Stück per se enorm. Die Sätze gehen meistens attacca ineinander über, wobei die afrikanischen Solisten zumeist die Rolle der Übergangsgestalter zu spielen haben. Ihre kompositorische Einbindung hat Schnyder in für das durchschnittliche mitteleuropäische Ohr, sofern es mit anderen originär schwarzen Musikformen halbwegs vertraut ist, weitgehend problemlos nachvollziehbarer Weise gelöst (das Programmheft enthält einige Analysen zur Theorie der westafrikanischen Musik, und wenn man nicht aufpaßt, wo sich die Tonsysteme unterschiedlich verhalten, kann man ganz schnell böse Schiffbruch erleiden), sobald man sich an den deklamierenden Tonfall des Griots gewöhnt hat - aber der ist vom altersweisen Bluessänger gar nicht so weit entfernt, und diesen hat der durchschnittliche Mitteleuropäer ja durchaus schon kennen- oder sogar schätzengelernt. Die akustische Komponente weist etwas mehr Probleme auf, da Bala und Kora sich gegen lautere Orchesterpassagen an diesem Abend kaum durchsetzen können und ihre Stärken somit vor allem solistisch oder im Zusammenklang der afrikanischen Instrumente entfalten. Trotzdem entsteht beispielsweise im Kampfgetümmel des vierten Satzes sehr gekonnter Orchesterlärm mit afrikanischen Zutaten, und wenn man dort genauer hinhört, bemerkt man, daß Schnyder sich hier einen fast durchgehenden Grooveteppich zu legen traut, wofür er in orthodoxen Kreisen der Neuen Musik eigentlich zur Steinigung freigegeben werden müßte. Aber das sei ferne - "Sundiata Keita" gehört zu den erfreulichen interkulturellen Produkten, ist alles andere als eine verkrampfte Multikulti-Verquirlung, sondern im Gegenteil ein Zeugnis, das vom Verständnis beider Seiten kündet und zur Wiederaufführung nachdrücklich empfohlen sei. Nur ein bißchen kurz ist es - selbst wenn man "Le Train" noch hinzunimmt, wird die übliche Konzertlänge immer noch ziemlich unterschritten. Aber das begeisterte Publikum im Werk II erklatscht sich nicht nur die zwei offenbar geplanten, sondern auch noch eine scheinbar ungeplante Zugabe. Die erste spielen die fünf Solisten im Alleingang, bei der zweiten geht es fast choralartig und hymnisch zu, die Chorstimmen tun ihr Bestes und bringen auch den feisten Schlußtriumph perfekt herüber - und da das Publikum immer noch keine Ruhe gibt, fangen die Solisten noch mit einer dritten Zugabe an. Järvi einigt sich mit Konzertmeisterin Waltraut Wächter kurz, was die Orchestermusiker dazu spielen sollen, und diese setzen dann schrittweise auch noch mit ein, offenbar auf improvisierter Basis. Wer schon mal mit einer Kleinbesetzung improvisiert hat, weiß, wie schwierig das mit einem Orchester ist - aber an diesem Abend klappt's prima und stellt allen Beteiligten ein exzellentes Zeugnis aus. Das Publikum wiederum, das in die letzte Zugabe noch mit Klatschrhythmen eingebunden war, zieht nach knapp anderthalb Stunden Bruttospielzeit hochzufrieden seiner Wege.



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