www.Crossover-agm.de
Goldberg-Improvisationen   03.05.2015   Chemnitz, Hinterbühne des Opernhauses
von rls

Nein, es gibt keinen Bach, aber trotzdem jede Menge Tastenmusik: Jeffrey Goldberg, seit 2009 Solokorrepetitor an den Chemnitzer Bühnen, trägt zufällig den gleichen Nachnamen wie einstmals der Mensch, der sich Bachs "Aria mit verschiedenen Variationen" nächtelang vorspielen ließ und hoffte, dadurch von seiner Schlaflosigkeit kuriert zu werden. Selbige Namensgleichheit und die Tatsache, daß Goldberg ein Filou an den Tasten ist und zudem einen besonderen Hang zur Improvisation pflegt (den er auch in diversen Lehraufträgen und Kursen auslebt), bildet den Rahmen für eine lose Folge von Konzerten, in denen Goldberg am Klavier improvisiert, so auch an diesem Sonntagabend auf der Hinterbühne des Opernhauses, die mit 120 Stühlen bestückt ist, von welchen über den Daumen gepeilt 100 besetzt sind (und zwar mit einer bunten Mischung vom Anzugträger bis zum Billy-Idol-Lookalike), als Goldberg mit seinem Spiel beginnt.
Grundthemen des Abends sind Frieden und Kreativität, erläutert Goldberg zwischen den Improvisationen in leicht unsicherem, aber sympathischem Deutsch: Es ist der von der UNESCO ausgerufene Tag der Pressefreiheit, der den Anlaß zu dieser erweiterten Betrachtungsweise liefert und mit einer enorm kontrastreichen Improvisation gewürdigt wird. Überhaupt schließt Frieden natürlich nicht aus, daß Goldberg als kontrastierendes Stilmittel auch akustisches Gemetzel einsetzt. Außerdem nutzt der Amerikaner auch alle möglichen und unmöglichen weiteren Ereignisse, die an einem 3.5. passiert sind, als Grundlage. Da wäre etwa der Maiaufstand in Dresden am 3.5.1849 unter Beteiligung eines gewissen Richard Wagner, der dann auch einige Themen für die folgende Improvisation liefern darf. Der gleiche Tag ist aber auch der Geburtstag von Jacob Ries, einem Fotografen, der für seine Bilder aus den Elendsvierteln von New York City bekannt wurde und die dortigen Zustände in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Daß die ihm gewidmete Improvisation einige Blueselemente enthält, ist natürlich kein Zufall. Aber Goldberg beherrscht auch das humoristische und/oder "leichte" Fach, wie er mit der Bierfaß-Polka und "Rosamunde" als Ideengebern beweist. Dann ist es Zeit für einen Block mit Improvisationen über Tiere, die Goldberg teilweise noch mit Vokalisen ausstattet und die Titel wie "Königspudelwolkenhase" oder "Kirschbaumkuckucksbienensonne" tragen. Danach fordert der Pianist das Publikum auf, ihm weitere Tierthemen zu nennen, über die er dann spontan improvisiert. Der Rezensent verkneift sich, "Eisbären müssen nie weinen" ins Rund zu werfen, und so kommen statt dessen Wünsche wie "Kröte mit Blätterwaldrausch", "Der Meisenmann im Vogelhäuschen", "Eidechse in der Sonne" (da Goldberg den Namen Eidechse nicht kennt, wird ihm dieser als "a little crocodile" übersetzt, was ein schräges Ergebnis der Improvisation ergibt) und schließlich "Der Jäger im Nebel". Etwas geerdeter geht es in den Improvisationen über Verfassungsjubiläen zu (u.a. in Japan am 3.5.1947), auch Edisons Phonographenwerk wurde an einem 3.5. gegründet, was gewürdigt werden muß, und dann geht es zu den Personenjubiläen über: einer ganzen Themensammlung von Gilbert & Sullivan, Bing Crosby (eröffnend mit "White Christmas", humoristisch von Goldberg kommentiert, er denke jetzt an letzten Dienstag - am 28.4.2015 hatte es in Chemnitz nochmals geschneit, nachdem am Tag zuvor das Quecksilber noch mehr als 20 Grad angezeigt hatte) und Pete Seeger, u.a. mit "Sag mir, wo die Blumen sind" und einem äußerst brutal harmonisierten "Amazing Grace". Über eine Improvisation zum inneren Frieden erreichen wir das Ende des regulären Sets, eine Kombination aus "Imagine" und "Let It Be", die Goldberg nochmal als Meister aller Klassen zeigt - und so merkwürdig er optisch auch wirkt (seine Hände zittern wie Espenlaub, wenn er das Mikrofon hält, das Hemd hängt heraus, die Krawatte ist von der aberwitzigen Sorte), so ein Riese ist er an den Tasten, und es entsteht das Gesamtbild eines vielleicht ein wenig abgedrehten, aber genialen (und grundsympathischen) Musikers. Natürlich gibt sich das Publikum ohne Zugaben nicht zufrieden, und wie Goldberg vom berühmten Strauss-Sonnenaufgang in Bing Crosbys "On The Sunny Side Of The Street" morpht, das soll ihm erstmal einer nachmachen. Singen können muß ein Korrepetitor natürlich auch - und so tut Goldberg in besagter Zugabe auch das noch, nachdem er sich im regulären Set auf Vokalisen beschränkt hatte. Nach knapp zwei Stunden (ohne Pause!) endet ein extrem unterhaltsames und dabei hochanspruchsvolles Konzert, dem eine regelmäßige Wiederkehr im Spielplan unbedingt zu wünschen ist.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver