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5. Philharmonisches Konzert   19.02.2015   Gera, Theater
von rls

Es geht russisch zu an diesem Abend, auch wenn man diese Angabe in zwei der drei Fälle des Programms noch präzisieren muß. So handelt es sich bei Sofia Gubaidulina herkunftstechnisch um eine Halbtatarin, kompositionspraktisch und von der Geisteswelt her aber um eine Kosmopolitin, was zur Zeit der Sowjetunion durchaus nicht ungefährlich war. Trotzdem mußte die Komponistin nicht wie so mancher Dissident bei Wasser und Brot schmachten oder verlor gar den Kopf, sondern bekam gelegentlich sogar staatliche Aufträge, etwa das Märchenpoem für Orchester, das 1971 für eine Rundfunksendung komponiert wurde, noch dazu eine Kindersendung. "Die kleine Kreide" heißt das Hintergrundstück und ist durchaus vielschichtig interpretierbar (Situation: Ein Stück Kreide würde gerne große Kunst schaffen, muß aber an einer Schultafel "Dienst schieben" und wird dort immer kleiner, während der Wissensschatz der Schüler immer größer wird). Die Komposition selbst überrascht erstmal durch ihren ungewöhnlichen Stimmton und zeigt danach längere flächige Entwicklungen, bevor lebhafte Zupfpassagen das Zepter ergreifen. Hier und da hört man sehr deutlich, daß die Komponistin Schostakowitsch und dessen Werk relativ genau gekannt haben muß, und gelegentliche Dissonanzflächen klingen, als wenn man mit Fingernägeln über eine Wandtafel fährt. Auch das Trillerduell verschiedener Soloinstrumente über einzelnen Klavierakkorden hat Charme, während in den Passagen mit Glockenspiel eine enorme düstere Spannung erzeugt wird, die es merkwürdig erscheinen läßt, daß es sich um ein Werk für Kinder handeln soll. Am Ende ist die Kreide offensichtlich aufgebraucht, und das Publikum (in dem sich zwar auffällig viele Jugendliche, aber keine Kinder befinden) bleibt irgendwie verwirrt zurück.
Auch bei Dmitri Schostakowitsch ist der Terminus "russisch" abwägungsbedürftig, denn bis auf die ersten 11 hat der Komponist alle seine Lebensjahre zu Sowjetzeiten verbracht, und zudem ist das 1. Violinkonzert im engen Kontakt mit dem Geiger David Oistrach entstanden, der bekanntlich jüdische Wurzeln hatte. Das Werk entstand 1948, als den Komponisten gerade wieder der Bannstrahl des Formalismus traf, und konnte erst nach Stalins Tod uraufgeführt werden - es war und ist in politischer Hinsicht völlig "unnütz" und mit seinen häufig grüblerischen Passagen auch alles andere als zugänglich. Schon der Eröffnungssatz trägt den Titel "Nocturne" und beginnt programmatisch düster, sowohl im Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera als auch in der Soloviolinstimme, die an diesen drei Tagen von Judith Eisenhofer gespielt wird - keine externe Kraft, sondern planmäßig die Konzertmeisterin des Orchesters, die mit dem Werk bereits vertraut ist, denn sie hatte damit an der Weimarer Musikhochschule ihr Konzertexamen abgelegt. Auch wenn die Solistin schrittweise neue Höhen erklimmt, bleibt die Orchesterdüsternis erhalten, zumal Laurent Wagner am Dirigentenpult das Tempo weit unten läßt. So macht sich schrittweise eine sinistre Stimmung breit, durch die nur gelegentlich mal ein Lichtstrahl fällt, und der Spannungsfaktor weiß definitiv zu packen.
Das Scherzo beginnt mit einem flotten Duell der Holzbläser mit der Solovioline, bevor aus den Tiefstreichern eine "Erdung" kommt. In diesem Satz steht die Solistin vor einer großen Herausforderung, denn hier muß die Geige nicht gespielt, sondern förmlich bearbeitet werden, und das ist einerseits physisch enorm anstrengend, vermittelt andererseits aber auch dem Hörer einen äußerst plastischen Begriff von Instrumentalarbeit. Das Orchestertutti legt Schostakowitsch wie so oft als einen Zirkusmarsch an, evoziert darüber hinaus als Ausdruck seines Selbstbehauptungswillens reichliche Mengen seines Monogramm-Motivs D-Es-C-H (wenngleich noch nicht in der triumphalen Form wie später in seiner 10. Sinfonie), und Orchester, Dirigent und Solistin bekommen es hin, den Eindruck intensivster Arbeit bis zum Satzschluß aufrechtzuerhalten.
Die Passacaglia hebt mit unheildrohenden Einwürfen aus Tiefblech und Tiefstreichern an, bekommt bei Wagner aber bald etwas Feierliches, fast Choralartiges, wenngleich Düsteres, wobei hier im Orchester ein paar Wackler die Stimmung trüben. Eisenhofer legt viel sehnsüchtig Wirkendes in ihr Solospiel, und selbst wenn Schostakowitsch dem Geschehen immer wieder Energie entziehen läßt, so mutet doch der ganze Satz viel eleganter und spannender als z.B. die Passacaglia-Quälerei in Brahms' 4. Sinfonie an. Die Solokadenz nimmt sehr langsam Fahrt auf, aber dann erreicht sie doch eine Explosion ...
... und mündet in den mit "Burlesque" überschriebenen vierten Satz, eine interessante Mischung aus russischer Folklore und harter Landarbeit, die Eisenhofer erstaunlich stilsicher spielt, obwohl sie 1984 in Regensburg geboren worden ist und nicht etwa 1944 in, sagen wir, Fergana. Teilweise läßt Wagner ein enorm flottes Tempo zu, aber das Orchester nimmt die vielen Wendungen trotzdem sicher und fliegt nicht aus den Kurven; auch das furiose Finale gelingt prima, und Eisenhofer kann sich von der extremen Anstrengung erholen - sie verzichtet wohlweislich auf eine Zugabe.
An Unterlänge krankt der Konzertabend trotzdem nicht, denn auch Peter Tschaikowskis 4. Sinfonie, die nach der Pause erklingt, ist kein sehr kurzes Werk. Es hebt mit Blechfanfaren an, die enorm grell von der Bühne geflogen kommen und einige Einsatzwackler nicht vermeiden können. Der nicht ganz leicht zu meisternde Mix zwischen Schwere und Ansätzen von Beschwingtheit im ersten Satz gelingt besser, der Tuttilärm auch, und das Holz verdient sich ein Sonderlob für seine Lieblichkeit im Seitenthema, wodurch es zugleich viel Ruhe ins Geschehen bringt, die Wagner dann gekonnt mit stärkerem Zug zum Tor koppelt. Auch der Energietransport im wilden Mittelteil klappt, wenngleich das Blech bisweilen zu stark "vorschmeckt". Dafür zimmert Wagner einen großen Bombastschluß hin, der schon arg an der oberen Dynamikgrenze kratzt.
Das Andantino an zweiter Satzposition leidet etwas an einem recht trockenen Beginn, der sich erst lebendiger macht, als die Celli das Regiment übernehmen. Wagner nimmt den Grundbeat sehr langsam, aber die Schwermut bleibt trotzdem im mäßigen Bereich, und damit sie nicht überhand nimmt, hat man im Mittelteil irgendwie das Gefühl, als ziehe der Dirigent das Orchester am Seil hinter sich her. Schließlich kommt auch die Eleganz zurück, die Schwermut tritt noch weiter in den Hintergrund, und die Spannung steht.
Das Scherzo besteht bekanntlich, was die Streicher angeht, aus reinen Zupfpassagen, die an diesem Abend, von einigen Übergangsholprigkeiten abgesehen, einen hervorragenden frechen Eindruck hinterlassen. Daß irgendwie ein dumpfer Unterton mitschwingt, dürfte in der Natur der Sache liegen, und mit Beginn des abschließenden "Allegro con fuoco"-Satzes, der mit einem "Weckruf" anhebt, ist er schnell vergessen. Das Volkslied, das Tschaikowski hier verarbeitet, schlägt eine Art Bogen zum letzten Schostakowitsch-Satz: "Stand ein Birkenbaum am grünen Raine", hier allerdings völlig ironiefrei verarbeitet, auch wenn Debatten über Nützlichkeit in beiden Kontexten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beinhalten (zumindest in der deutschen Nachdichtung wird der Birkenbaum letztlich zu Musikinstrumenten verarbeitet und nicht etwa simpel verheizt oder von einem Panzer niedergewalzt). Trotz des folkloristischen und zum Tanzbeinschwingen animierenden Themas entwickelt der Komponist hier eben keinen flotten Tanzbeat, sondern bleibt einer gewissen Erdenschwere verhaftet. Wagner zieht hier alle Dynamikregister zwischen "laut" und "sehr laut", bekommt im Mittelteil einen richtig niederschmetternden Gestus hin (bei dem man sich nicht vorstellen will, wie der einen Tag später im schlauchförmigeren Saal des Altenburger Theaters gewirkt hat) und kann als Schlußreserve nur noch das Tempo, aber nicht mehr die Lautstärke erhöhen. Trotzdem bleibt ein Gefühl der Überwältigung, der Mensch rechts neben dem Rezensenten bemerkt spitz, endlich habe das Orchester mal richtig was zu tun gehabt, und viel Applaus belohnt die Musiker für eine durchaus starke Leistung.



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