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Catch Me If You Can   30.01.2015   Dresden, Staatsoperette
von rls

Die Phantasie der Autoren in allen Ehren - aber manchmal schreibt das Leben die interessantesten Drehbücher dann doch selbst. (Daß mancherlei Phantastereien der Autoren später irgendwann mal Realität werden, steht auf einem anderen Blatt ...) Einen solchen Fall bietet die Lebensgeschichte des 1948 geborenen Frank Abagnale Jr., der in den 1960er Jahren in den USA nach der Scheidung seiner Eltern als 16jähriger von zu Hause ausriß, sich zunächst als Scheckbetrüger durchschlug und dann eine glänzende "Karriere" als Hochstapler (Pilot, Arzt, Anwalt ...) startete, bis ihm das FBI letztlich doch auf die Schliche kam. Nach einigen Jahren Gefängnis wurde Abagnale wegen guter Führung vorzeitig entlassen und sofort beim FBI engagiert - man brauchte seine Expertenkenntnisse in Sachen Fälschungen und Betrug ...
Dieser Stoff wurde im frühen 21. Jahrhundert zunächst als Spielfilm umgesetzt, und zwar mit Steven Spielberg auf dem Regiestuhl und Leonardo DiCaprio als Abagnale. Anno 2011 kam eine Musicalfassung auf die US-Bühne und wurde wie schon der Film zu einem großen Erfolg, so daß auch die Europäer hellhörig wurden: Das Theater in der Josefstadt in Wien gab anno 2013 die europäische Erstaufführung in einer deutschen Textfassung von Werner Sobotka, und ebenjene Produktion kommt nun als deutsche Erstaufführung in der Dresdner Staatsoperette auf die Bühne. Der Rezensent hat weder den Film noch die Wiener Produktion gesehen und kann daher nur anhand theoretischer Kenntnisse analysieren, wobei der markanteste Unterschied der Dresdner zur Wiener Fassung in der Umsetzung der Musik besteht: In Wien agierte eine fünfköpfige Band, während in Dresden Peter Christian Feigel am Pult des ganzen Staatsoperetten-Orchesters steht. Selbiges erweist sich als durchaus fähiges Jazzorchester, das den geforderten vielschichtigen Gestus, wie ihn die populärere Sparte der Jazzwelt vor einem halben Jahrhundert pflegte, problemlos auf die Bretter bekommt, egal ob ihm die Partitur nun flotten Swing oder schwermütigen Blues abverlangt. Die beiden genannten Attribute lassen sich übrigens auch perfekt auf die Inszenierung Sobotkas übertragen: Der Österreicher verlegt die Handlung auf eine Showbühne (auch dort herrscht ja bekanntlich mehr Schein als Sein, wie in Abagnales hochstapelndem Leben - Wieland Schwanebeck liefert dazu einen interessanten kulturtheoretischen Essay im Programmheft), und wie jeder Showregisseur weiß, bedarf es dort eines schlüssigen Konzepts, eines roten Fadens, der das Publikum möglichst durchgängig bei der Hand führt und es nicht hängen läßt. Sobotkas Fassung, die das Original von Terrence McNally (Story) und Marc Shaiman (Musik) weitgehend adaptiert, ist jedenfalls enorm temporeich und dicht gewoben, und nur gegen Ende des ersten Aktes geht ihr ein wenig die Puste aus, als mit dem "Mülleimer-Blues" und dem "Weihnachts-Blues" das Tempo zu weit gedrosselt wird, selbst wenn dazwischen mit der genialen FBI-Verklapsung, indem sich Abagnale dem Beamten Hanratty gegenüber selbst als Secret-Service-Agent ausgibt, noch ein hochspannendes (aber eben auch nur partiell temporeiches) Element dazwischengeschaltet ist. Sicherlich findet man auch in diesem Teil noch genügend Interessantes, um nicht einzunicken, aber wenn er als Ruhepol gedacht war, ist die Ruhe etwas zu tief ausgefallen und zudem ausgerechnet vor der Aktpause etwas merkwürdig plaziert.
Der Elementewirbel ringsumher macht dieses kleine Problem aber locker wett und die drei Stunden definitiv kurzweilig, zumal es genügend Anhaltspunkte gibt, die den Betrachter über die storyimmanente Funktion hinaus durchaus zum Nachdenken anregen, sei es das Hohelied auf die Plutokratie (Abagnale lernt schon früh von seinem Vater, wie man mit Geld und/oder teuren Geschenken alles oder zumindest viel erreicht), die Rolle einer Uniform als Machtsymbol (zwar hier mit einer Pilotenuniform im Fokus stehend, aber selbstredend auf viele andere Situationen anwendbar, was gerade der noch mit realsozialistischer Lebenserfahrung ausgestattete Teil des Publikums sehr gut nachvollziehen konnte) oder eben das Grundthema des Musicals, der Widerstreit zwischen Schein und Sein. Zudem hat Sobotka einige kleine Seitenhiebe auf aktuelles Geschehen eingebaut, etwa wenn er Abagnale auch Geldgeschäfte in Liechtenstein tätigen läßt. Perfekt eingepaßt sind auch Elemente wie die Gesangstalentshow "Sing mit mit Mitch", bei der sich die hübsche Blondine rechts neben dem Rezensenten kaum wieder einkriegt vor Lachen, und selbst die Werbeunterbrechungen für Fälschertinte und andere dem Ganoven nützliche Utensilien, etwa Schweizer Taschenmesser. Als Werbeträger agieren hier einige der beteiligten weiblichen Mitglieder des Damenensembles der Staatsoperette, die auch zahlreiche weitere Rollen, etwa Stewardessen und Krankenschwestern, be- oder auch entkleiden und zu einem guten Teil aus Beinen zu bestehen scheinen. Alle Beteiligten haben neben schauspielerischen auch sängerische Rollen auszufüllen, wobei man einige der Damen schwer versteht, obwohl sie nicht vom Orchester klanglich zugedeckt werden, wie das zu Beginn des ersten Aktes den Solisten passiert, bis die Techniker nach ein paar Minuten die richtige Balance gefunden haben und bis zum Ende der Vorstellung ein druckvolles, aber klares Klangbild erhalten bleibt, dem auch die Tatsache, daß Jannik Harneit als Abagnale bisweilen Handlungen zu begehen hat, bei denen er sein Funkmikrofon klanglich verdeckt, keinen großen Abbruch tut.
Besagter Jannik Harneit entpuppt sich schnell als Haupttrumpf der ganzen Show, agiert mit jugendlicher Frische und sieht mit seiner lausbübischen Erscheinung deutlich jünger aus als 25 (die er real alt ist), was zu Abagnales realem Alter während der Handlung durchaus gut paßt. Nur in den Höhenlagen wackelt seine Stimme noch leicht, aber den wegklappenden hohen Schlußton beispielsweise verzeiht man ihm nach den Anstrengungen der drei Stunden durchaus gerne. Christian Grygas als Abagnale Sr. und Nikolas Gerdell als FBI-Agent Carl Hanratty (übrigens der einzige Gast - alle anderen Rollen kann die Staatsoperette mit ihren eigenen Leuten stemmen) werden hingegen an die Untergrenzen ihrer jeweiligen Tessitur geführt, wobei Grygas aber ansonsten ohne Wenn und Aber überzeugt, während bei Gerdell die Schnoddrigkeit der stimmlichen Gestaltung bisweilen die Oberhand über die Textverständlichkeit gewinnt. Dem Gesamtspaß, den diese Aufführung bereitet, tut das allerdings keinen Abbruch, und so spendet das Publikum im ausverkauften Saal reichlich Applaus, den Intendant Wolfgang Schaller nur ungern unterbricht - aber es muß sein, denn schließlich gilt es noch, Harneit mit dem Nachwuchspreis des Förderforums der Staatsoperette auszuzeichnen, und der Moment nach dieser erfolgreichen Premiere eignet sich natürlich besonders gut dafür. Wenn man nicht erwartet, eine 1:1-Umsetzung des Films oder gar der Autobiographie Abagnales zu bekommen (natürlich sind dramaturgische Umstellungen erfolgt), dürfte sich ein Besuch dieser Inszenierung auf alle Fälle lohnen. Weitere Termine: www.staatsoperette-dresden.de

Jannik Harneit als falscher Pilot

Christian Grygas und Jannik Harneit

Nikolas Gerdell und Jannik Harneit

Fotos: Kai-Uwe Schulte-Bunert



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