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Zauber der Musik (4): Icefighters   25.01.2015   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Im Rahmen der himmelsrichtungsorientierten Programmkomplexe des MDR Sinfonieorchesters ist aktuell der Norden dran, und der gibt nicht nur das Spielzeitmotto "Go North" vor, sondern auch den Namen des "Ice Festivals", auch wenn während diesem Komplex von Veranstaltungen im Januar 2015 in Leipzig eher Frühlings- als Winterwetter herrscht, was man logischerweise bei der Planung (die ja jeweils mehrere Jahre zuvor getätigt wird) nicht hat vorhersehen können. Das "Icefighters"-Konzert im Rahmen der beliebten "Zauber der Musik"-Konzertserie beinhaltet allerdings keine Werke mit einem direkten Bezug zu nördlichen Hemisphären, wohl aber indirekte Berührungspunkte im zweiten Teil - dazu später mehr.
Johannes Brahms' Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-Moll op. 102 beendete, um im Titeljargon zu bleiben, die Eiszeit zwischen dem Komponisten und dem Violinvirtuosen Joseph Joachim - Brahms hatte sich im Trennungsstreit des Ehepaars Joachim auf die Seite von Amalie Joachim gestellt, was ihm Joseph Joachim sehr übelnahm. Besagtes Konzert gilt als Auslöser der Versöhnung zwischen den beiden früheren engen Freunden, und Joachim war nicht nur an der Ausfeilung der Violinsolostimme beteiligt, sondern spielte 1887 gemeinsam mit dem Cellisten Robert Hausmann auch die Uraufführung in Köln, dirigiert vom Komponisten selbst. Nun ist Brahms allerdings schon lange tot, und über etwaige aufzutauende Eiszeiten zwischen Dirigent Kristjan Järvi, Violinistin Anna-Liisa Bezrodny und Cellist Jan-Erik Gustafsson (alle drei übrigens mit aus mitteleuropäischer Perspektive nordländischen Wurzeln) ist zumindest dem Rezensenten nichts bekannt. Also hinein ins musikalische Geschehen, das bald offenbart, daß Bezrodny und Gustafsson sehr intensiv miteinander arbeiten, intensiver jedenfalls als mit Järvi. Gustafsson sägt im eröffnenden Allegro-Satz erstmal eher träge los und legt dann mit Bezrodny das intensive Dialogfundament, das diese ganze Aufführung prägen wird. Järvi übernimmt das Tempo, das eher an eine angezogene Handbremse erinnert, wenngleich hier und da doch mehr Zug zum Tor herrscht und der Dirigent merkwürdige Tanzschritte oder gar Sprünge aufs Podest legen kann. Aber insgesamt klappt das Zusammenspiel der Solisten besser als das zwischen ihnen und dem Orchester, und das endlose Mäandern des Satzes macht es dem Dirigenten auch nicht gerade einfach, aus dieser etwas spröden Masse ein großes Ganzes zu formen.
Diese Aufgabe ist im Andante-Satz etwas einfacher zu lösen, und dort gelingt sie dann auch besser. Zwar wackelt das Bläserintro noch etwas, aber die Klangwiesen, die die Streicher dann ansäen, glitzern frischgrün im Morgentau, über denen die Solisten anmutig schweben. Das große Klangwogenmanagement überzeugt an diesem Abend in diesem Satz ohne Wenn und Aber, und wie sich alle Beteiligten das finale Aufbrausen förmlich aus dem Ärmel schütteln, das ist schon hohe Schule.
Die wäre auch im abschließenden Vivace non troppo nötig - und bisweilen bekommen wir sie auch zu hören, etwa wieder im handgebremsten Beginn, der in einer großen Explosion mündet. Aber das Management des großen zerklüfteten Satzkörpers stellt Järvi wieder vor eine schwierige Aufgabe, und letztlich bleibt die abermals enorm intensive Miteinander-Arbeit der beiden Solisten das Interessanteste dieser Minuten. Wenigstens klappt auch der Energietransport in den Orchestertutti, und so zeigt sich das Auditorium nach dem wieder mal merkwürdig unvermittelten Satzschluß durchaus applausfreudig, wenn auch nicht applausfreudig genug, um die Solisten zu Zugaben zu überreden.
Dmitri Schostakowitschs 7. Sinfonie hätte längenseitig durchaus das Zeug, allein in einem Konzertprogramm zu stehen, aber nach dem auch schon recht ausgedehnten Brahms-Konzert wird sie zur physischen Herausforderung für das Publikum, der sich dieses allerdings gern stellt, auch und gerade in Leipzig mit seiner großen Tradition der Schostakowitsch-Werkpflege. Die Siebente gehört allgemein zu den durchaus häufiger auf den Spielplänen anzutreffenden Werken und bekommt ihren "eisigen" Kontext durch den Beinamen "Leningrader", auch wenn sie schon fertig war, bevor die späten Kriegswinter in der belagerten Stadt die Totenglocke immer lauter läuteten. Bekanntlich ist diese Sinfonie der politischen Deutungshoheit besonders stark unterworfen gewesen und hat daher erst in den letzten Jahrzehnten eine vielschichtigere Betrachtung erfahren, worauf das Programmheft mehr oder weniger am Rande auch eingeht. Kristjan Järvi dürfte als Dirigentensohn mit dem Werk schon seit seiner Jugend vertraut gewesen sein und hat sich für eine überraschende Deutung entschieden: Er verzichtet auf jegliche Ironie und Doppelbödigkeit (bekanntlich zwei Markenzeichen Schostakowitschs) und nimmt die Sinfonie im Wortsinne ernst. Das kann man mögen oder auch nicht - es erspart dem Hörer manche Gedankenattacke, raubt ihm aber eben auch den Anstoß dazu. So gerät die Einleitung des bekannten ersten Satzes fast unauffällig, und das Seitenthema nimmt Järvi praktisch ironiefrei idyllisch. Die berühmte Steigerung des Invasionsmotivs läßt er sehr weit unten beginnen und schafft sich dafür mehr Abstufungsmöglichkeiten, die er dann aber nur begrenzt nutzt. Das letzte Quentchen Anspannung verhageln ihm freilich die in den ersten Variationen zu unruhigen Zuschauer, aber auch die Maximalenergie verharrt trotz aller überwältigender Wirkung auf einem noch überschaubaren Niveau. Nimmt man das Kriterium als Maßstab, daß man sich normalerweise an dieser Stelle fühlen muß, als sei man von einem Panzer überrollt worden, so fährt einem der Panzer an diesem Abend nur über die Zehenspitzen. Aber auch das erzielt Wirkung, und besonders die düstere Ruhe des weiteren Satzverlaufs formt Järvi richtig schön bedrückend, bevor ihm die Schlußspannung wieder vom Publikum verhagelt wird, wofür ein einzelnes knisterndes Bonbonpapier von irgendwo rechts oben schon ausreicht.
Die drei weiteren Sätze gelten Zweiflern sowieso schon lange nur als Appendizes zum grandiosen ersten (interessanterweise verfolgte auch Schostakowitsch selbst anfangs den Gedanken eines Einsätzers, bevor er sich dann doch für einen vollen Viersätzer entschied), aber grundsätzlich schlecht oder gar überflüssig sind sie deswegen noch lange nicht, wie auch dieser Abend wieder beweist, zumal Järvi weitere Gelegenheit bekommt, sein Konzept der Ironiefreiheit weiter auszuwalzen. Und es gelingen durchaus großartige Klangwirkungen, wenn sich etwa die Harfen (geplant!) nervös durch die düsteren Ruinen schlagen, während die Ausbrüche im abschließenden Allegro non troppo eine durchaus große Zahl wilder Krieger vors innere Auge zaubern. In der Passage mit dem großen Gong läßt sich die extreme Dunkelheit förmlich mit Händen greifen, während Järvi später beweist, daß ihm die Aufforderung "Tanz den Mussolini!" nicht fremd sein dürfte. Der Schlußbombast verzichtet abermals auf jegliche ironische Deutung (alles andere wäre jetzt aber auch merkwürdig gewesen) und versetzt die Anwesenden in eine feierliche Stimmung, die mit sofortigen Bravi nach dem Schlußakkord honoriert wird.
Um die trotz allem aufgebaute Spannung wieder abzubauen, setzt der Dirigent ungewöhnlicherweise noch eine Zugabe an. Gemeinhin wird ja gewitzelt, daß im Gewandhaus grundsätzlich Bach als Zugabe gespielt werde, und so ist es auch diesmal: "Ein feste Burg ist unser Gott" in der Orchesterfassung von Leopold Stokowski (original ein Bachsches Orgelwerk) entwickelt in zähem Tempo großen und komplett undüsteren Bombast, der die Kontra-Stimmung, die man nach einer guten Siebenten zunächst haben sollte, in eine Pro-Stimmung verwandelt. Daß das andere Schostakowitsch-Grundkriterium, nämlich daß eine Sinfonieaufführung dann gut war, wenn der Rezensent auf dem Heimweg fröhlich das Invasionsthema vor sich hinpfeift, an diesem Abend nicht erfüllt werden konnte, hatte andere, private Gründe.



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