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Tann, Helmut "Joe" Sachse   06.12.2014   Treben, Rittergut
von rls

Bisweilen bewegt sich der Jazzklub Altenburg mit seinen Veranstaltungen aus der Skatstadt heraus, so auch an diesem Abend, als man das Rittergut in Treben bevölkert, dessen Gebäude über die letzten Jahre hin schrittweise mit viel Liebe und Aufwand saniert worden sind. Kurioserweise sind die Positionen des Headliners und des Supportacts diesmal vertauscht, wobei allerdings beide Acts zeitlich vollwertige Sets abliefern.
Zunächst spielt also Helmut "Joe" Sachse, einer der profiliertesten Jazz- und Bluesgitarristen mit DDR-Background, der noch heute sehr gefragt ist und neben seinen "Hauptmetiers" u.a. auch mit seinen Hendrix-Coverprojekten einiges Aufsehen erregt hat. Diese stehen am Nikolausabend allerdings nicht auf dem Programm, das Sachse mit folgender Ankündigung einleitet: "Ich spiele eigene Stücke fremdartig, fremde Stücke eigenartig - und artig gar nicht." Für manchen Zuhörer vielleicht überraschend ist der Fakt, daß Sachse keine Band dabeihat, sondern ein Solokonzert im wahrsten Sinne des Wortes spielt und neben der Gitarre nur noch zwei Drum-Fußpedale bedient. Bisweilen verwandelt er aber auch den Korpus seiner Gitarre in ein weiteres Perkussionsinstrument, gegebenenfalls auch in der Kombination, daß die rechte Hand auf den Korpus schlägt, während die linke über die Saiten flitzt. Anhand solcher Kabinettstückchen und den Hummelflug-artigen Arpeggien gleich zu Beginn klappt so manchem Hörer erstmal die Kinnlade nach unten, aber Sachse beschränkt sich nicht auf reine Technikdemonstrationen. Seinen Set rahmt er mit zwei großen Suiten, von denen die erste das Publikum in so unerträgliche Spannung versetzt, daß es in einem der, wie sich später herausstellt, letzten Drumbreaks dann doch befreienden Applaus förmlich erzwingt. Bis dahin hat Sachse von schräger freejazzkompatibler Harmonik bis zum klassischen Bluesschema oder gar Anklängen an die folkigeren Elemente der frühen Led Zeppelin mehr oder weniger alles verarbeitet, was im Übergenre gang und gäbe ist, und das reicht durchaus auch bis zu Geräuschen, die so klingen, als ob man mit den Fingernägeln über eine Wandtafel kratzt, nur nicht mit deren Nervpotential. Sachse setzt den Set dann mit kürzeren, teils auch zu Medleys zusammengefaßten Stücken fort, etwa Dizzy Gillespies Klassiker "Nights In Tunesia", bevor wieder so ein programmatischer Satz fällt: "Ich komme ja eigentlich vom Freejazz her, und das versuche ich jetzt zu beweisen." Der Beweis läßt keine Wünsche offen: Griffbrettbearbeitung mit Werkzeugen? Schreiende Effektpedale? Wüsteste Taktarten? Aber gerne - und das Ergebnis offenbart, wo so manche Mathcoreband ihre Inspirationen herholt. Einen Kontrapunkt setzt die Ballade "Einfallslos", aber der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu betrachten, denn Ideen gibt es natürlich durchaus, und auch die flitzenden Finger bleiben nicht beschäftigungslos. Gelegentlich erklingt sogar Gesang, wenngleich nur im Vokalisenprinzip, und das bleibt dann auch im restlichen Set so, dessen zweiter Rahmen von einer Keith-Jarrett-Suite gebildet wird und im Zugabenteil noch Chick Corea (mit einem Quasi-Drumsolo und einer finalen großen Lärmwand) und waschechten Bluesrock mit vollverzerrter Gitarre auffährt, was vom Publikum mit begeistertem Applaus honoriert wird.
Nach der Pause steigen Tann auf die Bühne und lassen dem Großteil des Publikums ein weiteres Mal die Kinnlade in Richtung Boden sinken. Da stehen drei Jungspunde auf der Bühne, bei denen es noch nicht so lange her sein dürfte, daß sie summiert das gleiche Alter hatten wie Joe Sachse - und diese drei Jungspunde spielen nicht etwa Indierock, Punk oder (wie man aus ihren karierten Hemden schließen könnte) Grunge, sondern astreinen Jazzrock der verrückteren Sorte. Welche junge und dem Publikum größtenteils unbekannte Band könnte es sich erlauben, mit einem viertelstündigen Stück der vielseitigsten Kategorie zu eröffnen? Tann tun's mit "U" und gewinnen: Aus einem ausgedehnten sphärischen Gitarrenintro von Dirk entwickelt sich vielschichtiger Jazzrock der teilweise wildesten Sorte, extrem dynamikbetont, gelegentlich mit Vokalisen des Gitarristen ergänzt (wobei man die akustisch schwer vernehmen kann, während das Soundgewand sonst recht klar ist) und Kontrabassist René mitunter auch mit dem Bogen sägen lassend. Daß Tann auch Stücke über Gegenden machen, wo keine Bäume wachsen (Winterwalddekoration der Bühne hin oder her), zeigt gleich der Folgetrack, den Drummer Demian (der die kompletten Ansagen übernimmt und übrigens in Dresden Schüler von Günter "Baby" Sommer war - alle drei Musiker sind in Elbflorenz an der Musikhochschule ausgebildet worden) mit folgendem Gedanken einleitet: "Wenn die Eskimo - oder, wie man sie korrekterweise heute benennt: die Inuit - einen Kleingarten haben, wie kommt die Karotte aus der Erde? Ist die dann schon tiefgefroren?" Solcherart staubtrockener Humor zieht sich durch den ganzen Set, auch das folgende "Mandys Dandy" weist solchen auf, wenngleich mehr in der verfilmten Fassung, die u.a. auf der Homepage www.tannjazz.de zu betrachten ist und eine etwas eigenwillige Interpretation des Rotkäppchen-Mythos beinhaltet (daß der böse Wolf ein Cabrio mit Erfurter Kennzeichen fährt, ist Zufall?), während der Song selbst sozusagen der "Singlehit" von Tann ist bzw. werden könnte. "Drah di net um, sonst fress i di" enthält neben einem Drumsolo fast tanzbare Passagen, outet die Bandmitglieder als verkappte Headbanger und beeindruckt mit Kontrabaß-Gitarre-Unisoni in wahnsinnigem Tempo fast alle Zweifler (nur "fast alle" deswegen, weil einige Besucher diesem Notenorkan dann doch erschöpft Tribut zollen und das Weite suchen). Dabei ist das noch gar nichts gegen das sechste und letzte Stück des Hauptsets: "Julia auf dem Ponyhof" wird als Blues angekündigt, und tatsächlich erkennt man hier und da Basiselemente, die selbigem Genre zuzuordnen sind. Darüber breitet sich aber Wildwuchs der extrem abwechslungsreichen wie unterhaltsamen Sorte aus, bis zu Abstrusitäten der Marke "Drummer Demian bearbeitet sein Kit nicht nur mit Stöcken und Besen, sondern auch mit Glöckchen, Quietscheentchen und einer Puppe mit eingebauter Spieluhr" reichend. "Nadel verpflichtet" heißt das neue Album des Trios und sollte, obwohl die Livesituation nochmal ein Erlebnis der ganz speziellen Art darstellt, als Hörtest der Fähigkeiten dieser außergewöhnlichen Band, die trotz aller Kabinettstückchen und Absonderlichkeiten das spieltechnische Heft des Handelns stets in der Hand behält und es irgendwie schafft, den roten Faden nie zu verlieren, zu empfehlen sein ("Mandys Dandy" ist nicht unbedingt der repräsentativste Einstieg, aber zumindest einer, der den Hörer nicht gleich von vornherein überfordert). Als Zugabe packen die Musiker noch "Teenage Dirtbag" von Wheatus aus, das anno 2000 mal ein Hit gewesen und aus den jugendlichen Hirnen nicht so leicht wieder zu entfernen war - an diesem Abend erklingt es aber natürlich in einer etwas "verwilderten" Fassung und schließt ein in jeglicher Hinsicht beeindruckendes Konzert ab.



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