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10. Sinfoniekonzert   18.06.2014   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Ein Abschluß im doppelten Sinne: Die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz beendet ihre Spielzeit 2013/2014 mit Anton Bruckners 9. Sinfonie, dem letzten Werk, an dem der Komponist arbeitete und das er zumindest zu großen Teilen noch fertigstellen konnte. Vier Sätze sollte die Sinfonie umfassen, wie üblich, und die ersten drei konnte der Österreicher, wenn auch über einen längeren Zeitraum hin, noch komplett abschließen. Danach machte er sich an die Komposition des Finalsatzes, und es findet sich die Anekdote, er habe diese Sinfonie dem lieben Gott als der absolut höchsten Majestät widmen wollen, nachdem er die Achte bereits der höchsten irdischen Majestät, also seinem Kaiser, gewidmet hatte. Der postulierte Widmungsträger der Neunten ließ den Komponisten trotzdem nicht fertigwerden, sondern berief ihn bereits vor Fertigstellung des vierten Satzes zu sich und sorgte zudem dafür, daß die bereits fertigen Teile des vierten Satzes nicht an einem Ort verblieben, sondern weit verstreut wurden. Das führte in den Folgejahrzehnten zu zwei aufführungspraktischen Lösungen: Entweder man spielte nur die ersten drei Sätze und ließ den dritten Satz, ein großes und äußerst merkwürdiges Adagio, gewissermaßen als Schlußwirkung im Raum stehen (was emotional durchaus funktionieren kann, auch wenn Bruckner selbst an eine solche Lösung nie wirklich gedacht haben dürfte), oder man setzte das über zehn Jahre zuvor entstandene Te Deum an die Stelle des Schlußsatzes (eine Möglichkeit, die Bruckner erwogen haben soll, als ihm klar wurde, daß er möglicherweise den vierten Satz nicht mehr beenden können würde, die aber stilistisch eher merkwürdig anmutet, da das Te Deum einen ganz anderen Entwicklungsstand des Brucknerschen Komponierens widerspiegelt und zudem in einer anderen Tonart steht als die Sinfonie selbst). Dann unterzogen sich die vier Musikwissenschaftler Nicola Samale, John A. Philipps, Benjamin Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca der Sisyphusarbeit, eine aufführbare Rekonstruktion des vierten Satzes zusammenzubasteln, wofür sie zunächst alle auffindbaren Quellen zusammentrugen und aus all den fertigen Partiturseiten, Skizzen und ausgeschiedenen Bögen schließlich einen Sinfoniesatz schufen, der Bruckners Intentionen, soweit sie festgehalten oder per Analogieschluß ermittelt werden konnten, so weit als möglich widerspiegelt, allerdings naturgemäß keine Auskunft darüber geben kann, ob Bruckner über die Analogieschlüsse hinaus noch zusätzliche, aber nirgendwo festgehaltene und daher nicht rekonstruierbare Einfälle gehabt hätte, die er noch einzubauen geplant hatte, bevor ihm dann aber der Stift aus der Hand genommen wurde. Jahrzehntelange Arbeit der vier Genannten steckt in der entstandenen Aufführungsfassung, und sie ist naturgemäß nicht abgeschlossen, denn jedesmal, wenn irgendwo auf der Welt wieder irgendein Stück Partitur, Skizze, Bogen aus dem noch nicht wieder aufgefundenen Material (und es fehlt noch einiges, von dem man weiß, daß es existiert haben muß - Bruckner hatte seine Partiturbögen nämlich durchnumeriert) wieder auftaucht, muß die Fassung überprüft und ggf. aktualisiert werden. Die bisher aktuellste Arbeitsversion stammt aus dem Jahr 2012, und ebendiese gelangt nun an diesem und dem folgenden Abend in Chemnitz zur Aufführung.
Die ersten drei Sätze sind also bekannt, und der erste ist mit "Feierlich. Misterioso" überschrieben. Letzteres nimmt Dirigent Frank Beermann wörtlich, wenn er die Hörner anfangs so agieren läßt, als kämen sie nicht aus der Ecke hinten links, sondern noch aus einer dazwischenliegenden Nebelwand. So entsteht ein ziemlich düsterer Beginn, bevor das Hauptthema schon relativ monumental gerät, aber in puncto Energietransport noch deutliche Reserven offenläßt - man soll sein Pulver ja nicht zu früh verschießen. Interessant ist es hier immer zu analysieren, wie ein Dirigent mit den Generalpausen umgeht, von denen es in dieser Sinfonie zwar nicht so viele wie etwa in der Zweiten gibt, aber immer noch genügend. Ergebnis: In den meisten Fällen weist ihnen Beermann schlicht und einfach die Funktion zu, die sie als Generalpause haben, aber hier und da spielt er sie besonders schroff an und verstärkt damit den natürlichen Bruchcharakter noch, ohne daß er aber in eine wilde Zergliederung abgleitet. Einige Probleme im Zusammenspiel, wenn sich etwa Holz und Hörner nicht so ganz über diverse Detailgestaltungen einig werden, fallen gottlob nicht übermäßig ins Gewicht, und die nächsten Tutti transportieren auch schon mehr Energie als das erste ihrer Art. Nochmal interessant ist die Frage, was ein Dirigent macht, wenn diese Energie einfach in die nächste Generalpause hineinläuft und dort verebbt, was Bruckner nicht nur einmal so notiert hat. Antwort hier: Beermann tut genau das, was Bruckner vorsieht - er nimmt sich nicht die Freiheit, hier irgendwelche Deutungsansätze hineinzulegen. Die Blechchoräle im dritten Tutti brauchen einige Zeit, um sicher zu werden, aber sie schaffen das, und das Finale wird laut, aber auch hier läßt Beermann wohlweislich noch Luft nach oben.
Interessant wird's an zweiter Satzposition: Das Scherzo nimmt Beermann im ersten Teil geradezu groovig und steigert den maschinellen Charakter nur schrittweise. Trotzdem erreicht das martialische Grundthema schon vor dem Trio eine harte Ausprägung, die den Kontrast zum lieblichen Trio mit seinen Waldvöglein besonders betont. Aber der Teufel steckt hier im Detail, denn im Trio liegt hintergründig ebenfalls eine unbarmherzige Motorik verborgen, und die arbeitet Beermann etwas stärker heraus als diverse Kollegen. Freilich hat er sich für die Wiederholung des ersten Scherzo-Teils noch eine Steigerung offengelassen, indem er jetzt im Hauptthema sozusagen puren Industrial spielt.
Der Kontrast zum Adagio könnte nicht größer sein: Wem im einleitenden Thema in einer guten Interpretation kein Schauer über den Rücken läuft, der sollte prüfen, ob er noch am Leben ist - und an diesem Abend gibt es eine gute Interpretation. Interessanterweise nimmt Beermann gefühlt die ersten Minuten auch gar nicht so langsam und senkt dann das Tempo schrittweise, so daß er anfangs sozusagen noch "düster leuchtend" musizieren läßt und dann später nur noch düster. Wenn dann vor der Generalpause noch ein behäbiges, aber unangenehmes klangliches Unwetter ausbricht, ist der Hörer vollends gefangen, nimmt aber durchaus noch wahr, daß insgesamt eine recht hohe Klangtransparenz herrscht und diverse Tuttiparts mit ihrer schrägen Harmonik die Tür ins 20. Jahrhundert schon weit aufstoßen. Im Finale stolpern einige Mitglieder, unter anderem die Flöten, bisweilen, aber irgendwann sind alle dort, wo sie hinsollen, die fragile Stimmung paßt, und die Spannung steht.
Hier wäre jetzt in vielen Fällen Schluß gewesen, aber wie eingangs beschrieben an diesem Abend nicht, wobei Beermann eine relativ lange Pause macht, um zu verdeutlichen, daß jetzt ein nur fast echter Bruckner kommt. Dann aber entwickelt er enormen Drive auf dem Weg zu einem weiteren brucknertypischen bläserdominierten Hauptthema, das freilich (die choralartigen Parts ausgenommen) an Markanz diversen seiner Brüder deutlich nachsteht. Gleiches trifft auf das dritte Thema zu - wieder ein großer Choral, wieder wenig markant, wenngleich zielstrebig nach unten weisend. Das Tempo sinkt während des Satzes abermals, aber es liegt wohl nicht daran, daß sich nach der Exposition dann doch noch die gewohnte Brucknersche, nennen wir sie Plakativität einstellt, was ausdrücklich positiv gemeint ist. Die Wagnertuben spielen da mit einem fast cineastisch wirkenden Zusatzchoral eine strukturell sehr wichtige Rolle. Nicht zu überhören ist allerdings hier und da eine gewisse Fahlheit besonders bläserseitig - das liegt daran, daß von den Bläserstimmen am wenigsten überliefert ist und die vier genannten Rekonstrukteure eben nichts nachkomponiert haben, während Bruckner manche "Leerstelle" sicher noch gefüllt hätte. Immerhin sitzen die diversen großen Ausbrüche auch so wie eine Eins, auch das Hauptthema des ersten Satzes taucht wieder auf und versandet interessanterweise auch in einer Generalpause. Der Übergang in den Schluß-Orgelpunkt holpert etwas (auch das könnte eine Stelle mit unklarem Originalverlauf sein), aber die Schlußebene selbst überzeugt mit den Schichtungen ebenso wie mit dem nun doch immensen Energietransport, wenngleich die Bühnenstruktur der Stadthalle den Klang immer etwas in die Breite gehen läßt und ihm damit die Urgewalt nimmt. Wenn Bruckner tatsächlich diesen Charakter im Finale haben wollte, mußte er davon ausgegangen sein, daß er beim Widmungsträger mit offenen Armen empfangen wird - ein Triumph breitet sich aus, abgeschlossen durch einen einzelnen Paukenschlag. Die Atmosphäre steht danach enorm lange, bevor Beermann und das Orchester verdientermaßen viel Applaus ernten.



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