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Leipziger Universitätsorchester   01.06.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Ein studentisches Orchester wie das Leipziger Universitätsorchester weist naturgemäß eine relativ große Fluktation in der Besetzung auf, und so hat sich in der reichlichen Dekade seiner Existenz schon eine ansehnliche Zahl von Alumni ergeben. Bei vielen von diesen entstand der Wunsch, "außer der Reihe" einmal wieder gemeinsam zu musizieren und ein Orchesterprojekt auf die Beine zu stellen. Zu diesem Zweck tat man sich mit einigen weiteren Musikern, u.a. aus dem "Patenorchester", dem MDR Sinfonieorchester, zusammen, konnte mit Juri Lebedev auch den langjährigen Dirigenten des Uniorchesters verpflichten und spielte an diesem schönwettrigen Sonntagnachmittag im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses ein kurzes, aber durchaus forderndes Konzert.
Das Attribut "fordernd" trifft durchaus bereits auf Giuseppe Verdis Ouvertüre zur Oper "Die Macht des Schicksals" zu, denn obwohl es sich hier um ein noch wilder zusammengewürfeltes Orchester handelt, als es das Uniorchester naturgemäß schon ist, so ziehen doch alle an einem Strang und bekommen eine gute Feinabstimmung hin. Das gilt auch für Lebedev: Er läßt den eröffnenden Blechpart schon recht markant spielen, aber es bleibt noch genügend Steigerungsspielraum offen, und den nutzen Orchester und Dirigent dann auch konsequent, wenngleich mit unterschiedlichen Ansichten: Das Tiefblech macht von rechts hinten enorm viel Druck, nur gibt es bisweilen etwas zuviel des Guten und deckt den Rest des Orchesters gern mit einem Klangteppich zu. Dafür streichelt Eva Jurisch die Seele des Hörers mit ihren Klarinettensoli, und wenn's drauf ankommt, bekommt das Tiefblech auch saubere choralartige Passagen gebacken. Lebedev hält das Tempo eher übersichtlich, aber bei den einzelnen Verschärfungen folgt ihm das Orchester willig, und aus wildem Bombast ansatzlos in lockeres Drei-Viertel-Takt-Gehopse zu morphen muß man auch erstmal in dieser Qualität schaffen. Der Schlußbombast krankt dann wieder etwas daran, daß man eigentlich nur noch Blech und Schlagwerk hört, aber wenigstens der Energietransport läßt kaum Wünsche offen.
Mit Peter Tschaikowskis 6. Sinfonie h-Moll op. 74, auch als Pathétique bekannt, liegt danach ein ganz schwerer Brocken auf den Pulten. Von der gängigen sinfonischen Form abweichend (und schon auf Schostakowitschs gequälte Meisterwerke vorausweisend), fiel das düstere Werk bei seiner Uraufführung 1893 komplett durch, und zwei Wochen später war der Komponist nicht mehr am Leben. Aber auch wenn man nicht um diesen Hintergrund weiß (der Programmzettel enthält keine Werkeinführung, und es sitzt einiges konzertunerfahrenes Publikum im Saal, darunter auch jüngere Kinder, für die gerade dieses grüblerisch-finstere Werk, das selbst für einen Erwachsenen einen schwer verdaulichen Brocken bildet, nun vielleicht nicht den idealen Zugang in die Welt der klassischen Musik darstellt), teilt sich die unheilvolle Spannung dem Hörer schnell mit, zumal Lebedev den Adagio-Beginn des 1. Satzes enorm weit zurücknimmt und mit tiefdunklen Farben zu malen beginnt; auch der Hintergrund für die diversen Tempoverschärfungen bleibt dunkel. Erst dem bedächtigen Seitenthema verleiht Lebedev, ein gebürtiger Leningrader, der damit tief in die russische Seele hineinblicken kann, weil er selber eine hat, ein Gefühl von russischer Weite. Der Paukenschlageffekt, nachdem einen wieder mal Eva Jurisch in den Schlaf gewiegt hat, gelingt prächtig, und es entwickeln sich Tuttipassagen mit der Zupackkraft eines hungrigen russischen Bären, auch wenn dieser wieder mal nur aus Blech und Schlagzeug zu bestehen scheint. Und wie Lebedev und das Orchester eine zäh-quälende Entwicklung unter den extrem langen Paukenwirbel legen, das stellt ihnen ein glänzendes Zeugnis ihres Einfühlungsvermögens aus. Da verzeiht man gern, wenn in den Zupfpassagen nicht alles so paßgenau sitzt. Zum akustischen Problem werden im Schlußteil allerdings einige der anwesenden Kinder, deren Zahl im Saal sich schrittweise verringert.
"Allegro con grazio" hat Tschaikowski über den zweiten Satz geschrieben, und graziös geht es hier bisweilen auch tatsächlich zu Werke, nicht allerdings ohne immer wieder (geplante!) Einschübe von Nervosität, wenn etwa die Hörner von links klangliches Unheil stiften. Später entwickelt sich ein erstaunlich stoischer Grundbeat, und der prima Mix aus Lieblichkeit und abgründigen Untertönen muß nochmal gesondert hervorgehoben werden.
Im mit Allegro molto vivace betitelten dritten Satz geht's zunächst recht flott zur Sache, aber irgendwie tanzt immer die Baba-Jaga um die Hütte. Lebedev muß zudem ein interessantes Steigerungsmanagement meistern: Einige Instrumentengruppen entwickeln sich schrittweise, aber irgendjemand verbreitet grundsätzlich immer Hektik, und diese Kombination spielen die Studenten ausgezeichnet, allen voran die vorwitzigen Flötistinnen. Der lange Finalaufbau gelingt markant und beweist zudem, daß der Komponist inmitten all der Düsternis und Hektik seinen Witz nicht verloren hat, etwa wenn ein einzelner, völlig harmloser Beckenschlag den langen Wirbel der großen Trommel in der Bedeutungslosigkeit versinken läßt. Und der Schlußeffekt überzeugt hier auch ohne Bombast.
Im üblichen Sinfonieaufbau würde jetzt irgend etwas Großartiges, am Ende Triumphales folgen - nicht so hier: Ein Adagio lamentoso schließt Tschaikowskis sechste und letzte Sinfonie ab, wobei die Einleitung die Katastrophe noch nicht als unabwendbar ansieht Lebedev nimmt sie zwar langsam, aber noch nicht todtraurig, auch wenn der Abgrund schrittweise naht - hier und da flackert jedenfalls immer noch Lebensenergie auf. Aber es geht bergab, der Bombast wird ultradunkel eingefärbt, die gestopften Hörner sind vor dem einen großen Gongschlag an Fiesheit kaum zu überbieten, und auch der Tiefblechchoral gelingt an diesem Spätnachmittag nach kurzer Anlaufzeit tadellos. Dann treiben die Celli den Hörer immer weiter gen Abgrund, und da mittlerweile die kleineren Kinder fast alle geflüchtet sind, steht auch die Schlußspannung ohne Störungen.
In den regulären Konzerten dieses Orchesters folgt dann bekanntermaßen noch eine Zugabe mit mancherlei lustigen Einlagen. Das ist bei den Alumni natürlich auch so, und man bleibt gleich in Rußland: Das Stichwort "Baba-Jaga" ist ja schon gefallen, und ebenso heißt auch Anatoli Ljadows Konzertstück op. 56 aus dem Jahr 1904, übrigens recht dramatisch (die Titelfigur ist in der Mythologie ja auch eher negativ besetzt), aber doch mit ein paar witzigen Einfällen ausstaffiert und die Rimski-Korsakow-Schule vorsichtig ins 20. Jahrhundert zu transformieren beginnend. Witz gibt es wie immer auch optisch: Die meisten Orchestermitglieder verwandeln sich per Kopftuch oder Zaubererhut in die Titelfigur, und derjenige der Schlagwerker, der die Becken bedient, schießt mit voller Larve und auf der Bühne herumschleichend in unterhaltsamer Richtung den Vogel ab.



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