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Grosses Concert III/5   16.05.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Herbert Blomstedt, Ehrendirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, hatte während seiner Amtszeit von 1998 bis 2005 eine Reihe bis dahin hierzulande kaum bekannter skandinavischer Komponisten auf die Programme gesetzt. Seit seinem Ausscheiden als Gewandhauskapellmeister kehrt er Jahr um Jahr als Gastdirigent ans Pult "seines" Orchesters zurück, widmete sich zunächst aber im wesentlichen seinem großen Bruckner-Sinfoniezyklus, dem er derzeit einen Beethoven-Sinfoniezyklus folgen läßt. Das Konzert dieses und des vorgelagerten Abends kombinieren nun den letzteren mit der Skandinavistik-Einführung, wenn auch nicht so wie ursprünglich geplant: Eigentlich stand die 2. Sinfonie von Wilhelm Stenhammar auf dem Programm, aber sie wurde letztlich durch zwei andere Werke ersetzt.
So kommt das Publikum sechs Tage vor dem 201. Geburtstag Richard Wagners zunächst in den Genuß eines Orchesterstückes, das die Ouvertüre und Isoldes Liebestod aus "Tristan und Isolde" koppelt. Die Wiedergabe dieses Stückes auf offener Bühne und nicht im Orchestergraben hat den Vorteil, daß sich dem Orchester und dem Dirigenten erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten bieten, da sich der Klang ganz anders entfalten kann als aus dem Orchestergraben im Opernhaus. Und ein Dirigent wie Herbert Blomstedt ist dafür bekannt, daß ihm Klangtransparenz ein hohes Gut ist, was er an diesem Abend einmal mehr beweist. So weit, wie die Celli in der Einleitung zurückgenommen worden sind, hätte man sie aus dem Orchestergraben wahrscheinlich gar nicht mehr gehört, und auch wenn die Holzeinsätze eine Weile brauchen, bis sie die gewünschte Weichheit erreicht haben, so gelingt doch eine enorm spannende große Schichtung, die nach unten bis in die Nähe des absoluten Stillstandes reicht. Finsterste Celli lassen abermalige kleine Holzschwächen (da sind sich Baßklarinette und Fagott durchaus mal uneins) in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, und wo der Liebestod im Zusammenhang der Oper durchaus anstrengend zu hören sein kann (immerhin unterhalten sich da im Prinzip vier Stunden lang zwei Leute über den Tod, und es passiert entsprechend wenig), so gelingt hier im summiert knapp 20 Minuten dauernden Orchesterstück eine doch spannendere Aufarbeitung, und Blomstedt erweist sich an diesem Abend als Meister, diese Spannung auch umzusetzen.
Danach folgt eine Umbaupause, denn dem Bühnenboden entsteigt ein etwas merkwürdig aussehender Bösendorfer-Flügel. Diese Zeit nutzt der Dirigent für etwas eher Ungewöhnliches, nämlich eine Werkeinführung zum nächsten Stück, "Poesis" von Ingvar Lidholm, das er 1964 mit den Stockholmer Philharmonikern, denen das Stück zum 50jährigen Bestehen gewidmet war, selbst uraufgeführt hatte. Nun, wiederum ein halbes Jahrhundert später, erweist sich dieses Stück als ein besonderes Kuriosum unter den Skurrilitäten, die das mittlere 20. Jahrhundert so hervorgebracht hat (wobei anzumerken ist, daß es in einer Neufassung von 2011 erklingt - der Rezensent kennt die Originalfassung nicht und kann zu den Unterschieden daher nichts sagen), und die witzige Moderation des Dirigenten hilft zweifellos, das Stück zu verstehen, da sich viele Elemente vom reinen Höreindruck her kaum entschlüsseln lassen, etwa wenn Lidholm das Virtuosentum aufs Korn nimmt, indem er die Violinen dreiteilt und jeden Teil die gleichen hochvirtuosen Passagen spielen läßt - aber nicht zusammen, sondern jeweils eine Sekunde auseinander. Das ergibt logischerweise wüstesten Lärm, der ohne besagtes Hintergrundwissen nicht verstehbar, sondern Lärm geblieben wäre. Die Einleitung bestreitet einer der Percussionisten mit Sandpapier der Körnung 5, und überhaupt sind es die gelegentlich eingestreuten interessanten Schlagzeugfiguren, denen man am ehesten einen autark hörbaren musikalischen Wert zuweisen möchte. Steffen Schleiermacher am Soloklavier liegt eher auf diesem, um direkt an den Saiten und am Gehäuse Geräusche zu erzeugen, und wenn er mal normal auf seinem Klavier sitzt, hat er nicht selten Cluster mit den ganzen Unterarmen zu erzeugen. Dem Solokontrabassisten der Stockholmer Philharmoniker, der die ganze neue Musik haßte, schrieb Lidholm noch ein originelles Solo auf den Leib, das sich ungefähr wie ein nicht anspringender Motor anhört (und diesem laut Moderation so gut gefallen haben soll, daß er von Stund an die ganze neue Musik liebte), und nachdem die Trompeten zwei Minuten lang ein hohes b gespielt haben, ist das Stück vorbei, ohne daß der Rezensent diesen Ton, wie der Dirigent versprochen hatte, so unerträglich findet, daß er froh sei, wenn es vorüber ist. Viel Applaus belohnt Blomstedt und das Orchester, aber es darf bezweifelt werden, daß er genauso intensiv ausgefallen wäre, wenn es da eben nicht diese ebenso kundige wie witzige Moderation gegeben hätte ...
Witz ist auch ein gutes Stichwort für Beethovens 8. Sinfonie F-Dur, die nach der Pause erklingt und als eine seiner witzigsten gilt, wenn man dieses Kriterium hier überhaupt sinnvoll anwenden kann. Zwischen den triumphalen Brüdern an Position 7 und 9 wird die kleine, gerade einmal halbstündige Achte gern übersehen, wie überhaupt seine geradzahligen Sinfonien, die Sechste einmal ausgeklammert, viel weniger Beachtung finden als die ungeradzahligen. "Allegro vivace e con brio" steht über dem Kopfsatz, den Blomstedt mit einer Art Altersweisheit spielen läßt: Er beteiligt sich nicht an den jüngeren Diskussionen über Tempobeschleunigungen, setzt aber trotzdem auf eine recht große Dynamikvariabilität, wobei er die meisten Verharrungen ziemlich weich anspielen läßt, sich also von schroffen Brüchen eher fernhält. Das Holz agiert endlich so traumwandlerisch, wie man das gern schon bei Wagner gehört hätte, und so vermißt man beim Hören kaum etwas, wenn man sich mit der grundlegenden Herangehensweise Blomstedts anfreunden kann, die von der krassen Strategie Riccardo Chaillys ähnlich weit entfernt ist wie vom romantischen Beethovenbild, das fast anderthalb Jahrhunderte lang dominiert hatte.
Das Allegretto scherzando gerät an diesem Abend sehr elegant, garniert mit einigen witzigen Energieschüben zum Satzende hin, während der dritte Satz, "Tempo di Minuetto" überschrieben, zwar raumgreifend anhebt, aber schnell "kleiner" wird. Die Hornsoli kommen mit kammermusikalischer Präzision, und obwohl Blomstedt diverse Wendungen hier wie aus dem Ärmel geschüttelt spielen läßt, so fließt doch kein romantischer Klangbrei ineinander, sondern es entsteht ein sehr klares Klangbild.
Selbiges bleibt dann auch im Finalsatz erhalten, obwohl "Allegro vivace" gefordert ist und Blomstedt diese Forderung auch erfüllt, wenngleich in seinem eigenen Maßstab, also dem der Gesamtinterpretation dieses Abends. Aus dem Ärmel schüttelt er hier sogar größere Energieausbrüche, Fagott und Pauke legen einen Rhythmusteppich, der an die Rhythmusgruppe einer Rockband erinnert, und im richtigen Moment nehmen dann auch die Ausspielung der Breaks und die raumgreifende Wirkung zu. Interessanterweise aber inszeniert der Dirigent hier keinen ganz großen Bombastschluß, sondern läßt auch das Finale des Finales noch mit großer Klarheit und Leichtfüßigkeit, die nicht mit Oberflächlichkeit zu verwechseln ist, spielen. Das honorieren die Leipziger mit stehenden Ovationen und langanhaltendem Applaus.



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