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Cuncordu e Tenore de Orosei   15.05.2014   Leipzig, Evangelisch-reformierte Kirche
von rls

Inseln zeigen bisweilen das Phänomen, daß sich hier entweder ganz eigenständige kulturelle Zweige entwickeln oder aber daß archaische Kulturelemente, die in den eigentlichen Herkunftsgebieten der ersten Siedler mittlerweile längst verdrängt worden sind, erhalten blieben. Je abgeschiedener ein Eiland liegt, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit für solche Erscheinungen, aber auch eine Insel wie Sardinien, die nun beileibe nicht weitab vom Schuß befindlich ist und im 19. Jahrhundert als Keimzelle der italienischen Einigung gar eine weltpolitische Rolle spielte, beherbergt solche Traditionen, und eine derselben ist im Rahmen des 15. A-Cappella-Festivals in Leipzig zu erleben, übrigens schon zum zweiten Mal: Bereits zur fünften Festivalausgabe anno 2004 waren Cuncordu e Tenore de Orosei in der Messemetropole zu Gast, und zehn Jahre später sind sie es nun wieder. Sicherlich dürften sich in der vollbesetzten Kirche am Tröndlinring auch einige Menschen befunden haben, die bereits das 2004er Konzert miterlebt haben und daher Vergleiche ziehen können, was sich in den letzten zehn Jahren bei de Formation so getan hat, aber der Rezensent gehört nicht zu diesem Personenkreis und kann daher nur anhand des Höreindrucks dieses Abends urteilen.
Der Bandname (der zwar irgendwie rumänisch klingt, aber doch sardisch ist) gibt dem Eingeweihten schon grundlegende Hinweise, was hier musikalisch bzw. strukturell zu erwarten ist. Zum einen kommt die Formation aus Orosei an der Ostküste der Insel, und zum anderen bieten sie die Gesangstraditionen Cuncordu und Tenore. Erstere erklingt im ersten Programmteil - es handelt sich um geistliche Gesänge, die stilmäßig mit normaler Stimmlage intoniert werden und zumeist in Latein gehalten sind. Von der Stimmfärbung her könnte man diese Gesänge auch in einer der orthodoxen Kirchen vermuten, und mit Ausnahme von "Ave Maria de su Rusario" gehorchen sie auch alle einem Grundprinzip: Massimo Roych (Tenor) fungiert als Vorsänger, Gian Nicola Appeddu (Bariton), Piero Pala (Tenor) und Mario Siotto (Baß) arbeiten als Responsegruppe - das klassische Call-And-Response-Prinzip also, allerdings dahingehend abgewandelt, daß das Response-Trio durchaus nicht nur die Vorsängerelemente wiederholt und sie nach oben und unten verschiebt, sondern gelegentlich auch seine eigenen Linien und Ideen dazugibt. Im einleitenden "Miserere" kommen die Sänger von rechts hinten auf die Bühne und finden sich in Abständen von einigen Metern immer wieder zu einem "Singkreis" zusammen, und auch bei den weiteren Stücken stellen sie sich beim Singen grundsätzlich in Kreisform auf. Zentrales Stück dieser ersten Hälfte, von bedächtigen Entwicklungen geprägt, ist das enorm lange "Stabat Mater". Die einzigen Abweichungen gibt es in "Launeddas", einem Instrumentalintro, das Massimo auf einer sardischen Rohrflöte namens Bena spielt, und im erwähnten "Ave Maria de su Rusario", denn hier wird das Quartett zum Quintett erweitert, und die Rolle des Vorsängers übernimmt der Tenor Tonino Carta, der ansonsten in der ganzen ersten Hälfte des Konzerts nicht im Einsatz ist (außer daß er die Wassergläser für seine singenden Kollegen füllt).
In der zweiten Hälfte ändert sich das Bild, denn die Tradition Tenore, die übrigens als UNESCO-Welterbe anerkannt ist, kommt zum Tragen. Sie unterscheidet sich inhaltlich (weltlich statt geistlich) und auch gesangsstilistisch von Cuncordu: Die Stimmen werden viel rauher, kehliger eingesetzt, das ganze Klangbild ist viel tiefenlastiger positioniert, die Vielfalt der eingesetzten Stilmittel nimmt zu, und obwohl die prinzipielle Call-And-Response-Struktur erhalten bleibt, so fallen jetzt die Mitsänger dem Call-Solisten permanent ins Wort und lassen ihn sein Motiv oft nur wenige Sekunden lang vortragen, bevor sie mit Vokalisen, Textfetzen oder auch ausformulierten Gedanken einfallen. Auch das Personal hat gewechselt: Massimo sitzt jetzt hinten im Altarraum, während Tonino den Vorsängerposten besetzt. Wenn man sich etwas wünschen dürfte, wäre es eine geringfügig bessere Durchhörbarkeit der Solostimme gewesen - da Tonino im Kreis so steht, daß er dem Publikum den Rücken zukehrt, entfaltet sich seine Stimme nicht in dem Maße, wie das wünschenswert gewesen wäre. Dafür entschädigt der "Stimmunterricht" mit Gian Nicola, der dem Publikum die Struktur und die Stilelemente verdeutlicht - die kompetente Leistung der zum A-Cappella-Festivalteam gehörenden Übersetzerin (die scheinbar italienische Wurzeln besitzt, aber schon so lange in Sachsen ansässig ist, daß sie ein eindeutig identifizierbares Sächsisch spricht) muß gesondert hervorgehoben werden. Interessanteste Stücke dieser zweiten Konzerthälfte sind "Ballu brincu" mit seinem intensiven Duell zwischen dem Vorsänger und den Begleitern sowie das abschließende "Turturinu", ein sehr dramatisches Stück über die Qualen, die die Frauen den verliebten Männern bereiten. Lauter Applaus belohnt das Ensemble, das sich mit zwei Zugaben bedankt: einem Solostück von Tonino namens "Ninnia", das Mario und Massimo mit je einer Trumpha (einer sardischen Maultrommel) begleiten, wobei Massimo zwischenzeitlich noch an eine Pipiolo (eine Flöte) wechselt, und einem doch tatsächlich fünfstimmigen Werk namens "Nanneddu meu", bei dem Gian Nicola als Vorsänger fungiert und das fast als Italopop im besten Sinne durchgehen würde. In zehn Jahren wieder? Gerne!



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