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Grosses Concert II/5   01.05.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Tag der Arbeit in Leipzig: Viel Arbeit wartet an diesem Abend speziell auf Julia Fischer, Solistin im Violinkonzert von Robert Schumann, das im Grossen Concert auf dem Programm des Gewandhausorchesters steht - ein merkwürdiges Werk, erst kurz vor Schumanns Sprung in den Rhein geschrieben, seinerzeit aber nie aufgeführt, sondern erst 1937 ausgegraben worden, sozusagen als arischer Ersatz für Mendelssohns Violinkonzert, wozu es freilich in mehrerlei Hinsicht nicht taugte und taugt: Ihm fehlt die Neigung zum "Hit", zur zumindest gelegentlichen Einprägsamkeit, es ist kaum möglich, überhaupt einen großen dramaturgischen Bogen über das ganze Konzert zu finden (obwohl es formal dem typischen Solokonzert des 19. Jahrhunderts entspricht), und nicht einmal nur böse Zungen äußerten, hier spiegele sich schon Schumanns geistiger Verfall, der dann eben keine 12 Monate später mit dem Sprung in den Rhein einen überdeutlichen Ausdruck fand, womit das Werk mit der "Schöpferkraft der arischen Rasse" natürlich nicht mehr zu erklären war, ohne einen merkwürdigen, ungewollt komischen Beigeschmack in die Argumentation zu legen. Zurück zum Bühnengeschehen: Fischer hält sich weitgehend an die originale Violinstimme, die für Joseph Joachim konzipiert, aber von diesem nicht auf violinistische Spielbarkeit untersucht worden war, findet allerdings hier und da doch zu individuellen Lösungen, wie man Schumanns Ideen auf der Geige bestmöglich umsetzen kann. Fischers Selbstverständnis wird an diesem Abend schnell klar: Nachdem Dirigent Christoph Eschenbach die Orchestereinleitung des ersten Satzes durchaus flott auf die Bretter bringen lassen hat, allerdings die Grundnervosität noch nicht endgültig ad acta legen lassen konnte, übernimmt Fischer mit äußerst zupackendem und aggressivem Spiel sofort die Führungsrolle. Die nötige Spielruhe läßt aber im Orchester auch nicht lange auf sich warten, was natürlich speziell den langsamen Passagen zugute kommt, die Eschenbach bis fast an den Rand des Stillstandes führt. Von da an gehört die Unentschlossenheit, die das Orchester bisweilen in den Gesamtklang legt, programmatisch determiniert (große Triumphe waren Schumanns Sache in musikalischer Hinsicht bekanntlich nicht), und was Fischer vorm Ende des ersten Satzes, den der Komponist "In kräftigem, aber nicht schnellem Tempo" überschrieben hat, an Energie in ihr Spiel legt, womit sie förmlich ihre Geige zersägt, das spricht ihrer irgendwie immer noch jungmädchenhaften Erscheinung (obwohl sie mittlerweile auch schon über 30 ist) völlig Hohn.
Freilich klappt auch bei den größten Musikern nicht immer alles: Im zweiten Satz, einfach "Langsam" genannt, brauchen Fischer und der am ersten Pult sitzende Cellist Jürnjakob Timm geraume Zeit, um in ihren Duettpassagen zu einem symbiotischen Miteinander zu finden - und das, obwohl Eschenbach mit dem Orchester wieder mal enorm viel Ruhe ins Geschehen bringt. Aber irgendwann werden Fischer und Timm dann doch eins, und phasenweise gelingen Klänge "zum Reinlegen", soweit Schumann das eben zuläßt. Fischer macht allerdings auch hier mehr als deutlich, wer hier die Nummer 1 im Ring ist, rechtfertigt diese Führungsrolle indes auch mit ihrem Spiel. Eschenbach will ihr freilich nicht nachstehen - wie er die Steigerung in den attacca angeschlossenen dritten Satz namens "Lebhaft, doch nicht zu schnell" förmlich aus dem Nichts kommen läßt, das verlangt Respekt. In das endlose Auf und Ab, das Schumann hier zu Papier gebracht hat, bekommen aber auch er und Fischer keinen großen Dynamikbogen rein - sie hangeln sich indes zumindest gekonnt durch die großen technischen Schwierigkeiten, und wenn mal ein fast tanzbarer Groove gefragt ist, dann schütteln sie auch diesen aus dem Ärmel, als gäbe es nichts Leichteres, ein großes Orchester fast tanzbare Grooves spielen zu lassen. Die Begeisterung am Ende bleibt trotzdem irgendwie indifferent und steigt erst schrittweise an, so daß Fischer noch eine Zugabe auspackt, den dritten Satz der e-Moll-Sonate von Paul Hindemith, ein hochvirtuoses Stück mit an diesem Abend brillant gespielten absteigenden Läufen und einen furiosen Finale, nach dem die in ein violettes Kleid gehüllte und auf der Bühne äußerst bewegungsaktive Solistin lautstark gefeiert wird.
Nach der Pause wartet nicht weniger Arbeit auf das Orchester: Anton Bruckners 4. Sinfonie dauert ein gutes Stück über eine Stunde, und wenn man dann auch noch einen Dirigenten wie Christoph Eschenbach am Pult hat, der zumindest an diesem Abend teilweise stark das Tempo herausnimmt, dann verlängert sich der Arbeitstag nochmals. Immerhin verschleppt Eschenbach das Ganze natürlich nicht zum Spaß, sondern gewinnt dadurch häufig noch an Klangmassivität, ohne sich aufs verminte Terrain der Materialschlachten begeben zu müssen. Und das ganz große Kunststück dieses Abends wird bald deutlich: Nachdem die Hörner in der Einleitung noch nicht ganz die gewünschte Weichheit erreicht haben, kommt das erste von vielen Tutti, und dessen Transparenz ist wirklich beeindruckend - Eschenbach entgeht gekonnt der Gefahr, daß das Blech alles zutrötet, und auch die "Untervegetation" bleibt wahrnehmbar. Das Händchen, enorm viel Spannung in die ruhigen Teile zu bringen, rettet er aus dem Schumann-Violinkonzert auch in die Bruckner-Sinfonie herüber, und in Hektik verfällt er auch dann nicht, wenn er gegen Ende des ersten Satzes dann doch etwas mehr "Zug zum Tor" entwickelt. Zwar wackeln auch hier die Hörner gelegentlich, aber die Tuttimonumentalität nimmt nochmals zu, ohne die Transparenz zu gefährden.
Das Andante quasi Allegretto, wie Bruckner es über den zweiten Satz schrieb, wandelt Eschenbach mit seiner Tempovorstellung fast in ein Adagio, wie man es in großer Form dann aus den späteren Bruckner-Sinfonien kennt. Auch hier gewinnt die Klangvorstellung mittels dieser Maßnahme durchaus, und große dunkle Streicherflächen breiten sich aus, wenngleich auch hier nicht jeder Einsatz aus den Bläserreihen so gelingt, wie er das sollte. Die riesige Spannung, wie man sie in der Passage mit den Vogelrufen hört, entschädigt für diese kleinen Probleme locker, und Gleichartiges wäre von dem Mini-Choral der Posaunen vor der großen Steigerung zu berichten gewesen, wenn da nicht ein paar Katarrhe im Publikum zum Ausbruch gelangt wären. Diese husten sich im abermals sehr monumentalen Tutti dann offenbar genügend aus, denn im abschließenden Piano-Trauermarsch ist sie wieder da, diese Spannung, die man förmlich mit Händen greifen kann.
Im Scherzo scheint Eschenbach kurioserweise etwas Zeit aufholen zu wollen, wodurch mancher Part fast überhastet wirkt, allerdings eine größtmögliche Kontrastwirkung zu den wieder mal weit zurückgenommenen langsamen Passagen erzielt werden kann. Über die Tuttitransparenz braucht man auch hier keine Worte zu verlieren. Das Trio fährt keine eindeutige Strategie, was die Tempogestaltung angeht, aber in der Scherzo-Wiederholung beginnt sich der Eindruck der Hast langsam zu verlieren - ehe er allerdings komplett verschwunden ist, ist der unterhaltsame Satz auch schon wieder zu Ende.
Das Finale gibt es an diesem Abend in der 1880er Drittfassung, und es fügt sich problemlos in die große Strategie ein: Wieder nimmt Eschenbach das Tempo heraus, was hier allerdings zu einer extremen Monumentalität des Tuttiparts führt, die kaum mehr steigerbar erscheint. In der Folge beweist der Dirigent seine Klasse in allen Disziplinen, die ihm Bruckner so abverlangt, seien es Schichtungen, Entwicklungen oder auch Bruchgestaltungen, und selbst die auch hier gelegentlich zu hörenden Einsatzwackler können das Bild nicht trüben. Die Schlußsteigerung setzt Eschenbach sehr weit unten an und bekommt dadurch einen riesigen Entwicklungsbogen zustande, der nur das kleine Problem aufweist, daß das Schlußtutti tatsächlich nicht mehr größer gestaltet werden kann als das Eingangstutti dieses Satzes. Freilich ist das Jammern auf sehr hohem Niveau, aber es entspricht durchaus auch der folgenden Reaktion des Publikums: Es gibt viel Applaus, aber das letzte Quentchen an Begeisterung fehlt. Oder anders ausgedrückt: Ein sehr gutes Konzert, aber zum absoluten Geniestreich hat's dann doch nicht ganz gereicht, obwohl nicht viel fehlte.



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