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25 Jahre Salonorchester Cappuccino   26.04.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Sich als "ernsthafter" klassischer Musiker der sogenannten Salonmusik hinzugeben rief vor 25 Jahren (und ruft noch heute) bei Puristen bisweilen unwilliges Stirnrunzeln hervor, während andere Menschen, die man für Puristen gehalten hatte, sich daraufhin "outen", daß sie solchen Klängen ebenfalls zugetan sind. Albrecht Winter, Gründer, Chefdenker und Conférencier des Salonorchesters Cappuccino, hat in der seither vergangenen Zeit etliche solcher Geschichten erlebt, und schon die Gründungsgeschichte selbst ist an Skurrilität kaum zu überbieten: Eine Handvoll Studenten der Leipziger Musikhochschule schaffte es im Frühjahr 1989, von der obligatorischen "Roten Woche", die dem intensiven Studium des Marxismus-Leninismus gewidmet werden sollte, freigestellt zu werden (unter den DDR-Verhältnissen eigentlich schon per se ein Unding) und statt dessen ein völlig unkommunistisches Kaffeehaus zu inszenieren, für das natürlich eine entsprechende Kapelle gebraucht wurde. Deren Performance kam derart gut an, daß weitere Konzertangebote nicht lange auf sich warten ließen, und schließlich schaffte man es sogar, das ehrwürdige Gewandhaus davon zu überzeugen, daß es eine feine Sache sei, eine Veranstaltungsreihe mit Salonmusik im besten Sinne zu organisieren - und diese läuft mit beträchtlichem Erfolg der jeweils sechs Konzerte pro Saison nun auch schon länger als eine Dekade. Klarer Fall, daß auch das Jubiläumskonzert zum Vierteljahrhundert des Ensembles im Gewandhaus stattfindet, allerdings nicht im kleineren, dem Mendelssohn-Saal, sondern im Großen Saal - und der ist auch noch ausverkauft.
Zum Standardrepertoire gehört beispielsweise die eröffnende Ouvertüre von Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt", ein dramaturgisch interessanter Konzertopener, sich lange Zeit eher bedächtig entwickelnd, bevor das furiose Finale kommt, das auch zwei völlig unterschiedlichen "klassikfremden" Personengruppen bekannt ist, freilich ohne konkrete Kenntnis der Herkunft: Fußballfans (als Torhymne eines bekannten deutschen Clubs) und Menschen, die in den Achtzigern das Ferienprogramm von ARD und ZDF verfolgt haben (wofür der Hauptmelodie noch ein Text unterlegt worden war). Freilich wird bei aller guten Laune auch deutlich, daß die orchesterinterne Balance durchaus nicht unproblematisch ist: Die Stammbesetzung von Cappuccino besteht aus neun Musikern, und acht genügen in diesem Stück, um den neunten, nämlich Pianist Horst Singer, vom Sitzplatz des Rezensenten aus (freilich an der anderen Bühnenseite gelegen), zur akustischen Wirkungslosigkeit zu verdammen.
Je nach Erfordernis des zu spielenden Stückes erweitert sich die Besetzung des Orchesters, und zudem sind an diesem Abend einige Gäste dabei, so etwa zehn Studenten der heute Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" geheißenen Einrichtung, an der Winter eine Violinprofessur bekleidet. In "La Barcarole - Walzer über Offenbachs 'Hoffmanns Erzählungen'" von Oscar Fetras, müssen die Studenten aber nicht geigen - drei Tanzpaare schweben über die Bühne (das eine hat auch noch einen Picknickkorb dabei und spricht dem Wein zu), die übrigen zwei Damen singen, sind allerdings nicht sonderlich gut zu verstehen. Als Special Guest ist George Grosz, äh, Schorsch Bross, dabei, der schon vor Konzertbeginn mit dem Publikum Schabernack getrieben hatte und jetzt als Seifenblasenkünstler agiert. Wie er einer kleinen Trompete gleichzeitig Seifenblasen und die Töne von "Auld Lang Syne" entlockt, weiß ebenso zu beeindrucken wie sein Alphornsolo mit senkrechtem und nur vom Mund gehaltenem Instrument. Seine Wortmeldungen sind unverstärkt allerdings nur schwer wahrnehmbar. Der 2014er Jubilar Richard Strauss darf im Programm auch nicht fehlen, zumal die "Überreichung der silbernen Rose" nach der Stummfilmfassung des "Rosenkavaliers" an markanter Stelle in der Ensemblegeschichte eine Rolle gespielt hat: Unglücklicherweise funktioniert trotz aller Detailverliebtheit (die Scheinwerfer etwa zaubern silberne Rosen aufs Parkett) die Darbietung an diesem Abend musikalisch überhaupt nicht. Die beiden Sängerinnen Eunyee You und Fanny Lustaud, beide für sich zweifellos gut, harmonieren weder miteinander noch mit der Orchestermusik, vom Text versteht man nichts, und so quält und schleppt sich das Stück ewig dahin, einzig vom phasenweise fast psychedelisch anmutenden Klavier her etwas Aufmerksamkeit heischend. Da paßt "Nordosten" von Mauricio Kagel gleich dran, eine für ein Salonorchester äußerst ungewöhnliche Wahl (nicht zuletzt da 1991 geschrieben): Schlagzeuger René Scipio muß den basischen Tangorhythmus öfter zerhacken, als daß er ihn mal ausspielen darf, die Instrumentalisten spielen so, als ob ihnen im eisigen Nordoststurm die Finger abfrieren würden, und Klavier und Kontrabaß bekommen sogar eine solistische Einlage zugewiesen, allerdings müssen sie ihre Instrumente perkussiv gebrauchen. Was überzeugt, ist wieder mal der letzte Teil, psychotisch schleifend und den Hörer förmlich erfrieren lassend - die ironische Brechung kommt hier nur durch die weltraumstaunende Gestik der Musiker nach dem Verebben des letzten Tons zustande. Nach so viel Avantgarde erden die nächsten Gäste das Publikum wieder: Das Calmus Ensemble singt zunächst a cappella "Wenn der Wind weht" und findet schrittweise zu seiner bekannten immensen Homogenität, bevor gemeinsam mit dem Orchester ein Medley aus Filmschlagern von Werner R. Heymann erklingt, das automatisch gute Laune erzeugt und das Publikum gern darüber hinwegsehen läßt, daß die Stimmbalance des Vokalquintetts nicht immer ganz die ideale ist - man hört den jeweiligen Leadsänger keineswegs immer mit der gewünschten Deutlichkeit heraus. Aber da das Textgut zumindest der Refrains von "Ein Freund, ein guter Freund", "Liebling, mein Herz läßt dich grüßen", "Eine Nacht in Monte Carlo", "Das kleine Haus am Michigansee" oder dem finalen "Das ist die Liebe der Matrosen" weitgehend bekannt ist, stört sich da kaum jemand dran.
Der zweite Teil startet mit dem Titeltrack des Programms, dem Schlager "Es ist alles nur geliehen hier auf dieser schönen Welt" von Franz Grothe, der einen ungewohnt philosophischen Aspekt ins Kaffeehaus einbringt. Chefdenker Winter spielt hier nicht Geige wie üblich, sondern er singt, und das tut er mit einer guten und angenehmen Baritonstimme. Zur "Fächerpolonaise" von Karl Michael Ziehrer sind diesmal alle fünf studentischen Tanzpaare im Einsatz, während Johann Strauss' "Kaiser-Walzer" ohne Tanz auskommen muß, dafür aber eine andere Zutat: eine Gesangspartie, die die vor dem Zweiten Weltkrieg hochgradig populäre Koloratursopranistin Erna Sack geschrieben hat. Eunyee You übernimmt die immens schwere Aufgabe, diesen Part zu singen, und abgesehen davon, daß man wieder mal kein Wort versteht und daß einen beim Hören öfter das Gefühl beschleicht, die Komposition wäre auch ohne diese Zutat ausgekommen, entledigt sie sich der Aufgabe durchaus annehmbar und legt besonders in die A-cappella-Passagen eine enorme Spannung. Die letzten Stücke werden in bigbandartiger Besetzung gespielt, und über das noch eher konventionelle "Was machen Sie morgen abend?" erreicht man die Sinfonische Dichtung "Jazz-Fratzen" von Hanns Löhr, einen Geniestreich, der es trefflich versteht, die immer wieder eingestreuten großen Gesten ironisch zu brechen und sie versanden zu lassen, was gleich beim dramatischen großen Gong zu Stückbeginn losgeht, der dramaturgisch überhaupt keine Funktion hat. Die "Donauwellen" und noch zahlreiche andere Stücke werden gekonnt durch den musikalischen Fleischwolf gedreht und sorgen für enorm hohen Unterhaltungswert, der im Anschluß durch den hübschen "Mitternachtsblues" von Franz Grothe wieder etwas geerdet wird. Ein treffliches Beispiel für die Detailverliebtheit der Showmacher gibt das abschließende Medley "Samba, Samba!", das den Hörer nicht nur musikalisch nach Brasilien entführt, sondern mit gelbem und grünem Licht auch eine entsprechende Optik addiert. Das recht flotte Stück wird von Stehgeiger Winter mit einem wilden Schlußsprung gekrönt, und es ist klar, daß es ohne Zugaben nicht abgehen kann. "Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder" ist dabei nicht nur das Motto der erwähnten Konzertreihe, sondern auch Standardstück im Zugabenblock, und das Publikum singt begeistert mit, auch schon in Passagen, wo es das eigentlich noch gar nicht hätte tun sollen. Im abschließenden "Champagnergalopp" müssen sich zwei der Holzbläser schließlich der angenehmen Aufgabe stellen, mit durchdachten Konstruktionen Korken durchs Gewandhaus zu schießen und jeweils an der richtigen Stelle ein Ploppgeräusch zu erzeugen. Damit endet ein überwiegend gelungenes, brutto zweieinhalbstündiges Potpourri anspruchsvoller Unterhaltungsmusik, das erhoffen läßt, auch im nächsten Vierteljahrhundert noch manche diesbezügliche Perle serviert zu bekommen.



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