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Sonnenallee   15.03.2014   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Alljährlich im Sommer spielen Studenten der Leipziger Musik- und Theaterhochschule Sommertheater im Hof des Grassimuseums, und die 2012er Inszenierung "Sonnenallee", eine Theaterfassung des gleichnamigen Films von Leander Haußmann und Thomas Brussig, erfreute sich so großer Beliebtheit, daß man 20,5 Monate später auch noch vier Indoor-Auftritte im Großen Saal der Hochschule ansetzt. Der Rezensent ist beim dritten der vier (der ebenfalls ausverkauft ist) dabei; er hat die 2012er Auftritte nicht gesehen und kann daher nur anhand der 2014er Variante urteilen. Und noch eine Rahmenbedingung muß vorher genannt werden: Er kennt den Inhalt des Films in der Theorie, hat den Streifen selbst aber auch nie gesehen und geht daher völlig unbeeinflußt von dem, was Haußmann und Brussig da in Bilder gegossen haben, an das Stück heran, womit er quasi Haußmanns Blick auf den Stoff reproduziert, also den eines in gewisser Weise Außenstehenden. Freilich bedarf auch das einer Relativierung: Der Rezensent ist gleichfalls DDR-Kind, allerdings unterscheidet sich seine Kindheit in drei wesentlichen Punkten von der der Protagonisten des Stückes. Er ist eine reichliche Dekade später geboren worden (die Helden der "Westmusik" in seiner Generation waren also nicht die Stones wie bei "Sonnenallee"-Wuschel, sondern Depeche Mode, Europe oder Madonna), er ist kein Stadt-, sondern Dorfkind, und er wohnte auch nicht im Grenzgebiet, in dem das Mitführen des Personalausweises von ganz besonderer praktischer Bedeutung war, von so praktischer Bedeutung, daß sich dieses Element wie ein roter Faden durchs ganze Stück zieht. In den Grundzügen unterscheidet sich die Theaterhandlung nicht vom Film: Hauptfigur Micha Ehrenreich und seine Clique, die im Ostteil der Berliner Sonnenallee wohnen, versuchen erwachsen zu werden, wobei sich ihnen manch Hindernis staatlicher- wie emotionalerseits in den Weg rollt. Da wäre die Frage, ob man sich drei Jahre zur Armee verpflichten soll, um studieren zu können, da ist der übereifrige ABV (für jüngere Leser: der Abschnittsbevollmächtigte, die DDR-Version des erst in jüngerer Zeit auch in vielen bundesdeutschen Kommunen eingeführten Bürgerpolizisten oder Kontaktbereichsbeamten), und da ist Miriam, der heißeste Feger der ganzen Sonnenallee, neu zugezogen und für Micha lange Zeit scheinbar unerreichbar. Grundinhalt des Ganzen sind Michas Versuche, Miriam näherzukommen, alle anderen Handlungsstränge stellen mehr oder weniger Beiwerk dar, und das Gros der Handlung besteht sowieso aus einem Gagfeuerwerk, das mit der realen Lebenswelt von damals nur bedingt etwas zu tun haben dürfte. Aber "Sonnenallee" will ja auch kein Dokudrama sein, und solange es sich konsequent als Komödie darstellt, bleibt es hochgradig unterhaltsam. Das Problem ist nur, daß es sich mit dieser Rolle nicht zufriedengeben will, aber am Einbau von Elementen des Ernstes des Lebens scheitert. Diese nämlich versuchen derart penetrant, einen moralinsauren Unterton zu vermeiden, daß es den Betrachter schon fast peinlich berührt - Gipfel dieser Entwicklung ist die Szene, wo der ABV versehentlich Wuschel scheinbar erschießt, aber letztlich nur ihre teure eingeschmuggelte "Exile On Main St."-Stones-Doppel-LP getroffen wird. Gegen Stückende häufen sich solche Elemente, und die gute Laune zumindest des Rezensenten, die in den ersten zweieinhalb Stunden aufgebaut worden ist, verschwindet in der letzten Viertelstunde rapide wieder, und erst Nina Hagens "Du hast den Farbfilm vergessen"-Konservenfassung, die als Rausgehmusik vom Band kommt, zaubert ihm wieder ein Lächeln ins Gesicht, das gerade ein zentraler unreflektierter Satz wie das Schlußplädoyer "Es war die beste Zeit unseres Lebens, denn wir waren jung und verliebt" (mit dem Argument könnte man alle Verfehlungen der Jugend und die negativen Rahmenbedingungen pauschal wegwischen, selbst solche aus der HJ-Zeit, als Kindersoldat oder welche auch immer) versteinern lassen hat.
Apropos Musik: Mit auf der Bühne steht eine vierköpfige Band und intoniert manch alten Klassiker, von "The Boys Are Back In Town" von Thin Lizzy bis hin zu - natürlich - den Stones, etwa in Gestalt von "Brown Sugar". Anfängliche Abmischprobleme innerhalb der Instrumentalisten kann der Soundmensch dabei schnell beheben - aber der Hase liegt an einer anderen Stelle im Pfeffer: Die beiden Mikrofone, über die verschiedene der Schauspieler den Leadgesang beisteuern, sind derart übel abgemischt, daß man einerseits dreimal hinhören muß, um das Gesungene zu verstehen, und andererseits sich ein unangenehm kratziges Gefühl einstellt. Vielleicht war es sogar Absicht, die bescheidene Tonqualität alter DDR-Mitschnitte zu reproduzieren (auf der fünften Kassettenkopie hörte man nur noch wenig mehr als das Rauschen des Meeres) - nur Hörspaß macht das halt keinen, und das Problem bleibt auch bis zur Zugabe "Get It On" von T.Rex ungelöst. Schade drum.
Für die beiden angesprochenen Probleme können die Schauspieler selber natürlich nichts. 18 Studenten geben ihr Bestes, müssen in x verschiedene Rollen schlüpfen und wissen, soweit es die Rahmenbedingungen zulassen, auch voll und ganz zu überzeugen, auch wenn der Anachronismus des Schenker-Kreisels ebenso wie der eines DDR-Rappers (wir sind wohlgemerkt in den Siebzigern!) eher Fragezeichen im Hirn des Betrachters hinterläßt. Dafür machen die erwähnten Gagfeuerwerke umso mehr Spaß, seien es die Schmuggeltouren von Michas Onkel Heinz, der Running Gag mit den ständig wechselnden Freunden von Michas Schwester Sabine oder die köstliche Szene der Party bei Mario, in deren Verlauf alle Gäste bis auf den Funktionärssohn Brille und die später eintreffende Miriam stoned werden, was wieder einmal verhindert, daß Micha und Miriam schon früher zusammenkommen. Zu beeindrucken wissen in technischer Hinsicht besonders die nachgestellten Sportstunden, in denen die Beteiligten exzellente akrobatische Fähigkeiten demonstrieren. Bühnenbildnerisches Zentralelement sind übrigens Wände aus orangefarbigen Betonformsteinen mit großen Löchern - universell einsetzbar und, von der Farbigkeit abgesehen, tatsächlich ein elementarer Bestandteil der Stadt- und Grünplanung in der DDR, wie im Programmheft anhand einer Anzahl von Fotografien deutlich wird. Von den Schauspielern muß einer besonders hervorgehoben werden: Raphael Käding gibt als Michas Vater Hotte Ehrenreich einen geborenen Komiker ab, dessen goldige Szene, als er der Familie das neue Telefon präsentiert, mit Worten quasi nicht zu beschreiben ist.
So bleibt unterm Strich ein zwiespältiger Eindruck: Das Theaterstück "Sonnenallee" hat seine Stärken und Schwächen, wobei letztgenannte an diesem Abend von einem großen Teil des Publikums offenbar nicht als solche empfunden werden, wie der frenetische Beifall am Ende dokumentiert, der neben der geplanten Zugabe "Get It On" sogar nochmal zu einer ungeplanten Wiederholung des Eingangschors führt. Und anhand der Bühnenleistung ist der Applaus auch voll und ganz verdient.



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