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Leipziger Universitätsorchester   08.02.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Am Abend vor dem allsemesterlichen Konzert des Leipziger Universitätsorchesters im Gewandhaus werden in Sotschi die Olympischen Winterspiele eröffnet. Ob die Abstimmung über das zu spielende Konzertprogramm aus diesem Grund eine starke russisch-sowjetische Dominanz ergeben hat oder ob es sich schlicht und einfach um einen Zufall handelt, soll an dieser Stelle nicht weiter ergründet werden (es wird allerdings im Programm später noch einen weiteren Fingerzeig gen Sotschi geben). Jedenfalls strömt das Publikum wieder mal in Scharen in den Konzerttempel, und an der Abendkasse wird schon sehr früh ein Schild mit der Aufschrift "Das Konzert ist ausverkauft" aufgestellt.
Der einzige nonslawische Programmpunkt eröffnet den Abend: die "Ruy Blas"-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy, die sich im Gegensatz zum weitgehend vergessenen Schauspiel Victor Hugos, dem sie einstmals vorgeschaltet war, großer Beliebtheit im Konzertwesen erfreut, obwohl oder vielleicht sogar weil es sich um einen Schnellschuß Mendelssohns handelte, den er in Windeseile zusammenzimmerte, ohne groß Zeit zum Feilen zu haben, und der vielleicht gerade deswegen so frisch und unverbraucht geriet. Dirigent Raphael Heger braucht zwar eine gewisse Zeit, bis er das Orchester dort hat, wo er es hinhaben will, was die Spielsicherheit betrifft, aber die Entwicklung etwa der schnellen Passagen von gewisser Unkoordiniertheit hin zu deutlich höherer Exaktheit nötigt definitiv Respekt ab. Kurioses hat sich schon zu Beginn in den choralartigen Passagen ereignet, wo auch einige Wackler und gar irgendein akut verstimmtes Instrument den Gesamteindruck trotzdem nicht entscheidend beeinträchtigen können, das Grundtempo stimmt auch, und Haeger bekommt eine richtig gute Dynamikkurve hin, die in einem Schluß gipfelt, der für die Folgewerke noch deutlich Luft nach oben läßt, was die Monumentalität angeht. Man soll sein Pulver ja nicht zu früh verschießen.
Konzerte des Universitätsorchesters locken regelmäßig auch Publikum ins Gewandhaus, das dort sonst selten bis nie anzutreffen ist. Für diesen Personenkreis wird die folgende kleine Umbaupause zu einem mit Spannung verfolgten Ereignis, als aus den Tiefen des Bühnenbodens ein großer schwarzer Flügel emporgeschwebt kommt, den das gutgelaunte Publikum mit Applaus begrüßt. An diesem nimmt die Südkoreanerin Youbin Kim Platz, die sich auf der Bühne zwar in ihrem blauen Kleid so steif bewegt wie eine Holzpuppe, aber spielerisch ein ganz anderes Bild hinterläßt. Bei nicht thematisch angebundenen Werken wußte und weiß man bei Dmitri Schostakowitsch ja nie so genau, wieviele doppelte Böden der vom Leben geplagte Komponist da nun wieder eingebaut hatte. Das Programmheft legt einen starken Fokus auf den ironischen Charakter seines 2. Klavierkonzertes F-Dur op. 102, aber Kim widersteht der Versuchung, das Stück etwa nicht ernstzunehmen oder gar als reinen Klamauk zu behandeln - sie sieht das Ganze als pianistisches Bravourstück, mit dem Schostakowitsch seinem Sohn Maxim die Gelegenheit geben wollte, sein Können am Tasteninstrument unter Beweis zu stellen, verfällt aber durchaus nicht ins Etüdenhafte oder in den Anschein puren Virtuosentums. Freilich dauert es auch hier im ersten Satz eine ganze Weile, bis Unisoni auch wirklich klappen - da divergieren bisweilen nicht nur die Vorstellungen von Pianistin und Orchester, sondern auch einige innerhalb des Orchesters, und trotz aller Spielfreude hinterläßt manche Passage noch den Eindruck von Stückwerk, was sich erst im Verlaufe des Satzes verliert und einigen wirklich exzellent gelungenen Momenten Platz macht, etwa den interessanten einzelnen Orchesterschlägen vor dem großen Tutti. In letzterem geht das Klavier dann klanglich baden, aber ansonsten stimmt die Balance zwischen ihm und dem Orchester durchaus, manchem Hörer dürfte das Klavier gar einen Tick zu weit im Vordergrund gestanden haben. So kann man freilich die planmäßige Entwicklung des Pianoparts zu immer stärkerer Abgedrehtheit bestens nachvollziehen, und mit diesem Eindruck geht dieser Allegro-Satz dann auch zu Ende.
Das Andante an zweiter Satzposition nehmen Haeger, Kim und das Orchester völlig unironisch als hochromantischen Eskapismus, der tempo- wie lautstärkeseitig enorm weit zurückgenommen wird. Das führt im besten Fall zu extrem berückenden Passagen, etwa wenn das Klavier über einen von nur einem Horn ausgerollten Teppich dahinschwebt, und läßt den Hörer vergessen, daß er einem Werk aus den 1950er Jahren lauscht. Da der Chor der Publikumskatarrhe, der im ersten Satz noch manchen ruhigen Part verhagelte, diesmal schweigt, gelingt sogar ein extrem spannender Satzschluß im Pianissimo und mit äußerst schleppendem Tempo, der den Hörer fast am Atmen hindert.
Luft geholt werden darf aber schnell wieder, denn die ersten Töne des dritten Satzes, wieder eines Allegros, folgen attacca. Trotz flotten Tempos entsteht bisweilen der Eindruck einer mechanischen Komponente, was durchaus beabsichtigt gewesen sein kann. Obwohl diesmal nicht alle Dialoge zwischen Klavier und Horn gelingen, so hinterläßt die interne Abstimmung insgesamt einen besseren Eindruck als in Satz 1. Interessanterweise nimmt Haeger den knappen, aber wirkungsvollen Schluß zwar in einem sehr flotten Tempo, aber mit viel geringerem Klangvolumen als das eine große Tutti im Satz 1, was einerseits das dortige Balanceproblem nicht wieder auftreten, andererseits bezüglich des großen Bogens über das Gesamtwerk irgendwie Fragen im Hirn des Hörers aufkommen läßt. Spontan nach dem Ende des Satzes und des Gesamtwerkes stellt man sich solche Fragen aber eher noch nicht - das Publikum applaudiert fleißig und überredet die Pianistin auch noch zu einer Zugabe - keinen Bach (den sonst im Gewandhaus fast jeder Solist zu spielen müssen glaubt), keinen Schostakowitsch, keinen Rachmaninow, sondern Chopins Etüde op. 25 Nr. 6. Die zeichnet sich durch eine merkwürdige Struktur aus: Die linke Hand spielt Melodien mit großem Bogen, die rechte flitzt nur so über die Tasten, dann agieren beide in Höchstgeschwindigkeit, und schließlich mündet alles in einen zurückhaltenden Schluß.
Sergej Rachmaninow hatte mit seiner 1. Sinfonie anno 1897 das Problem, daß sie bei der Uraufführung durchfiel, und neben all den auch im Programmheft benannten Gründen (so soll Dirigent Alexander Glasunow angeblich betrunken gewesen sein) läßt sich auch im rein kompositorischen Kontext manch Argument finden, das eine Ahnung von den zu erwartenden Reaktionen aufkommen läßt. In der Spätromantik war das Publikum ja schon mancherlei gewöhnt, was die großen Orchesterschinken anging, aber selbst ein Gustav Mahler, der in puncto Zerklüftung und Stimmungsschwankungen ähnlich radikal vorging wie Rachmaninow, konnte sich erst langsam und schrittweise mit seinen Sinfonien durchsetzen. Während Mahler den Gegensatz allerdings zum Stilmittel erhob und ihn in den gigantischen Spannungsbogen einbezog, tat Rachmaninow in seiner 1. Sinfonie genau das nicht: Er reihte scheinbar Einfall an Einfall, interessanterweise im heutigen Metalcore eine Entsprechung findend, wo die Klasse der einzelnen Einfälle als solcher trotzdem den Blick aufs Ganze deutlich erschwert. Da hat auch Raphael Heger große Mühe, aus dem 1. Satz ein Ganzes zu formen, aber er bewältigt diese Herkulesaufgabe am Ende doch in irgendwie nachvollziehbarer Form. Ein wenig Anlaufzeit braucht das Orchester aber auch hier, bis es aus dem etwas holprigen Anfang zur gewünschten Gravität der Einleitung gefunden hat, während im Allegro ma non troppo überschriebenen Hauptteil dieses Satzes dann die genannte Herkulesaufgabe auf alle Beteiligten wartet. Teilweise entfaltet das Orchester schon hier recht monumentale Wirkungen, und es klappt zwar keineswegs alles (die Hörner etwa wackeln im Satzschluß doch bedenklich), aber doch vieles.
Satz 2, Allegro animato benannt, stellt Orchester und Dirigent vor die Aufgabe, nervös zu klingen, und zwar geplant nervös - das ist gar nicht einfach (bekanntlich ist auch nichts schwerer, als an der richtigen Stelle auf Kommando falsch zu spielen), aber es wird an diesem Abend in durchaus nachvollziehbarer Manier gemeistert, und die eingestreuten abgründigen Wirkungen gelingen ebenfalls. Eher zum Problem werden die geforderten wellenartigen Klangbewegungen auf engerem Raum - da tun sich durchaus noch Steigerungsmöglichkeiten auf, obwohl einige dieser Elemente tatsächlich so wogen, als ob sie jeden Moment über dem Hörer zusammenschlagen würden.
Im Larghetto tritt als Running Gag wieder ein zwar wackelndes, aber zweifellos mit dem Begriff "schön" zu umschreibendes Holzintro auf. Letztere Tugend bleibt im weiteren Verlauf erhalten, die Spielsicherheit nimmt zu, und da verzeiht man auch gern, wenn der letzte Schritt zum Schwebezustand nicht gegangen wird. Dafür entschädigt ein gekonnt gespielter Stimmungsumschwung in die Finsternis des Mittelteils samt ebenso gelungener Rückkehr, und daß die Stärken des Orchesters an diesem Abend in den ganz weit zurückgenommenen Momenten liegen, findet seinen weiteren Beweis im berückenden Satzfinale, in dem man den einzelnen Holz-Störfaktor nicht überbewerten will.
Interessant wird's dann im vierten Satz, denn hier evoziert Rachmaninow Stilmittel, die später auch bei Schostakowitsch an markanten Stellen zum Einsatz kommen sollten. So entsteht etwa eine Mixtur aus Zirkus- und Militärmarsch, und bei manchen Streicherpassagen könnte Rachmaninow theoretisch an einen rollenden Panzer gedacht haben, wenn, ja wenn es 1897 denn schon Panzer gegeben hätte. Trotz der eine sehr große Distanz illustrierenden Fernbläser und der Tatsache, daß auch hier wieder enorme Zerklüftung herrscht (die aber sicherer gespielt anmutet als im ersten Satz), entsteht im ganzen Allegro-con-fuoco-Satz ein sehr direkter, partiell fast bedrohlich wirkender Zugriff, der durch eine hohe Grundaggressivität (die Celli vor und während der scheinbaren großen Schlußsteigerung!) gekennzeichnet ist. Der Schluß des Satzes wird dann maßgeblich zur Verstörung der Uraufführungsbesucher beigetragen haben: Die bombastische Schein-Schlußpassage wird von einem Gong beendet, und dann ist nicht etwa Schluß, sondern der Komponist hängt noch einen finsteren Appendix im extrem schleppenden Tempo an, der die durch den Bombast gelöst geglaubte Aggression wieder zum Vorschein kommen läßt (man fühlt sich an bitterböse Doomdeath-Bands erinnert) und mit dem abrupten Doppelschlag zum Schluß im Prinzip alle Fragen offenläßt. Großer Applaus belohnt das Orchester auch für den Mut, diesen merkwürdigen Brocken gespielt zu haben, der im Schatten der späteren Bravourwerke Rachmaninows steht.
Noch was? Aber sicher - die kuriose Zugabe ist beim Leipziger Universitätsorchester ja schon Tradition. Diesmal bleibt man gleich in Rußland, genauer beim Walzer Nr. 2 aus Dmitri Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester, den Cineasten eher ob ihres Einsatzes in Stanley Kubricks letztem Film "Eyes Wide Shut" vertraut: Eine Akkordeonistin und ein Saxophonist intonieren eine schwermütige russische Volksmelodie, dann setzt das Orchester ein und gibt Raum für ein Panoptikum skurriler Einlagen, das als Parodie auf das Rußland-Entwicklungs-Potpourri, das während der Olympia-Eröffnungsfeier inszeniert worden war, gedacht sein könnte: Die Schlagzeuger kommen später (und dem Alkohol zusprechend) auf die Bühne und verlassen diese eher als die anderen Orchestermitglieder, eine gemalte Jahrmarktsorgel wird scheinbar gespielt, etliche Paare nutzen den begrenzten freien Raum für Tanzeinlagen, ein Transparent fordert "Alle Macht den Geigen!", und Clara Kunz trägt während ihres Posaunensolos eine Pudelmütze und schießt so den eindeutigsten Puck nach Sotschi.



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