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Landesjugendorchester Sachsen   22.08.2013   Grimma, Klosterkirche
von rls

Musikalische Gäste hat sich das sächsische Landesjugendorchester ja schon häufiger eingeladen, wobei das natürlich in allererster Linie auf Solisten und Dirigenten gemünzt ist. Diesmal gibt es allerdings internationale Verstärkung für die Orchesterbesetzung selbst: 18 Schüler des Musikcolleges "K.I. Rautio" aus Petrosawodsk sitzen in den Reihen des Klangkörpers, wobei sie beispielsweise die komplette Oboenbesetzung stellen. Drei Konzerte stehen in diesem 45. Orchesterprojekt auf dem Programm: eine öffentliche Generalprobe in der Landesmusikakademie auf Schloß Colditz sowie zwei Benefizkonzerte, das eine für die hochwassergeschädigte Klosterkirche am Grimmaer Muldenufer und das andere für den Wiederaufbau des Turmes der Lukaskirche in Dresden.
"Vorspiel und Konzert ..." heißt das Motto dieses Orchesterprojektes, und so ist der Programmablauf einerseits typisch und andererseits untypisch gestaltet. Einer Ouvertüre folgt ein Solokonzert, dann ist Konzertpause - so weit alles wie im klassischen Orchesterbetrieb gewohnt. Aber nach der Pause steht nicht etwa ein großes sinfonisches Werk auf dem Programm, sondern noch einmal die gleiche Struktur wie vor der Pause, und das Solokonzert hier gibt es auch gleich noch als Uraufführung, die ansonsten ja kaum jemand auf eine letzte Position im Programm zu setzen wagt, weil man befürchtet, daß einem das Publikum enteilt, weil es weiß, daß es danach nichts mehr verpassen kann.
Aber so weit sind wir noch nicht - es ist zwar schon 20 Uhr, aber es erklingt als erstes Stück trotzdem Claude Debussys "Prélude à l'après-midi d'un faune", also das Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns. Den läßt Dirigent Milko Kersten zunächst sehr behäbig in der Sonne dösen - will heißen, er setzt ein ziemlich langsames Tempo an. Die Soloflöte, die hier eine tragende Rolle zu spielen hat, agiert zunächst etwas kurzatmig, findet aber bald den Weg zu langen und größeren Bögen, die Spannung paßt und die Dynamikentwicklung auch, obwohl Kersten weiterhin brütende und lähmende Hitze bevorzugt. Daß Anmut und Eleganz, die dieses Stück zweifellos zu entfalten in der Lage ist, trotzdem häufig auf der Strecke bleiben, liegt an der knochentrockenen Akustik des leeren Kirchenraumes, der zudem nach außen wenig schalldämmend wirkt, so daß sich gelegentlich Außengeräusche unter die Musik mischen. Im Schlußpart tun sie das dankenswerterweise nicht, und so gelingt Kersten und dem Orchester das Erzeugen einer gehörigen Portion Spannung.
Sergej Prokofjews 1. Klavierkonzert vollzieht im Kleinen das nach, was schon für die Struktur des ganzen Konzertabends gesagt wurde: Es kombiniert Typisches mit Untypischem. Zu letzterem Komplex gehört die ungewöhnlich kurze Spieldauer, die zudem auf einen einzigen Satz verdichtet ist - aber ebenjener Satz entspricht in seiner Binnengliederung der traditionellen Solokonzertstruktur, in der zwei schnellere Teile einen langsamen rahmen. Kersten nimmt den Beginn recht wuchtig und schafft es, den Kirchenraum tatsächlich etwas mehr mit Klang zu füllen (wobei anzumerken ist, daß der Rezensent natürlich nur von seiner Sitzposition in der 8. Reihe aus urteilen kann). Den Solisten Viktor Pellja haben die Petrosawodsker gleich selber mitgebracht, und als Abschlußprüfung am College hat er ebenjenes Konzert gespielt, so daß davon auszugehen ist, daß er ihm gewachsen ist. Und das beweist er auch ohne Wenn und Aber. Er spielt mit beeindruckender Lockerheit, läßt auch in wüsten Läufen keine Hektik aufkommen und schüttelt die Übergänge in den ersten düsteren Part und aus diesem wieder heraus so problemlos aus dem Ärmel, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Und was er da im langsamen Teil immer noch für einen treibenden Flow aus den Klavierbässen herausholt, das beeindruckt - und da verzeiht man ihm gern, daß er in ebenjenem langsamen Teil hier und da auch ein wenig stark auf die Schmalzkarte setzt. Im Schlußteil sitzen nicht alle Steigerungen ganz paßgenau, wofür die messerscharfe Oktavenreiterei aber entschädigt. Im Schlußlärm kann Kersten keine Steigerung mehr hervorzaubern, aber vielleicht hätte die auch die Gesamtbalance gefährdet - man hört Pellja auch dort immer noch durch, wo auch große Orchester ihre Solisten gern mal zuzudecken pflegen. Der Applaus ist lange und herzlich, aber zu einer Zugabe überreden läßt sich der junge Pianist nicht.
Same procedure dann nach der Pause: Diesmal gibt es allerdings zum Auftakt eine andere bekannte Ouvertüre, nämlich die Beethovensche zu "Egmont". Kersten wählt wieder eher überschaubare Tempi, anstatt Spanier und Niederländer in wilder Raserei aufeinander zu galoppieren zu lassen. Das ist unter diesen Klangverhältnissen auch besser so, denn hier klingt trotz ausbleibenden Hallhallhalls doch einiges etwas dumpf, was hier und da die Gesamtstimmung des Werkes allerdings noch befördert. Und Kersten variiert die Tempi durchaus geschickt und arbeitet überraschenderweise nicht mal den berühmten Schwerthieb besonders deutlich heraus. Der Fokus liegt eher auf der Empörung danach, die Beethoven sehr plastisch gestaltet hat, und diese Steilvorlage nehmen Musiker und Dirigent gern auf, wobei auch hier die Akustik den letzten überbordenden Schwung verschluckt.
Und nun ist es Zeit für die Uraufführung: Das Bajan, also das russische Knopfakkordeon, gehört nicht eben zu den typischen Soloinstrumenten, die man mit einem Sinfonieorchester koppelt - aber die Mixtur funktioniert zumindest vom Prinzip her, stellt man nach Ende der vier Sätze von "Bellow-unbottoned" (so steht der Werktitel im Programmheft) bzw. "Bellow-unbuttoned" (so heißt das Werk laut Auskunft des Komponisten eigentlich) fest, wenngleich einschränkend bemerkt werden muß, daß sich diese Aussage im wesentlichen auf die höheren Tonlagen des Bajans bezieht, denn von den tieferen hört man an diesem Abend eher selten etwas. Gerade den ersten Satz "Just for fun's sake" würde man gerne nochmal unter anderen akustischen Verhältnissen hören. Hans-Peter Preu, so heißt der Komponist, hat nämlich hier in diesem sehr jazzig orientierten Satz den Kontrabässen eine entscheidende Funktion als Rhythmusgruppe zugedacht, aber diese auszufüllen gelingt an diesem Abend kaum. Die drei Schlagzeuger haben keine durchgehende Aufgabe in dieser Art, aber sie müssen anderweitig hart arbeiten: Sie flitzen zwischen den einzelnen Schlaginstrumenten hin und her, um keinen Einsatz zu verpassen. Das Grundtempo dieses Satzes ist recht flott, er enthält auch mancherlei witzige Ideen, wirkt aber teilweise etwas ungeordnet. Wenigstens stimmt offensichtlich die Einbindung von Svetlana Dolgih und ihrem Bajan ins Orchester: Kersten und sie halten viel Blickkontakt, und harmonisch ist viel vom Gespielten durchaus als wahrscheinlich so geplant anzusehen, was man bei rezenten Komponisten sonst ja nie so genau weiß. "Lost in counterpoint" heißt der zweite Satz und spielt mit archaischen Methoden wie Fugen, ist allerdings rhythmisch trotzdem recht wüst gehalten, obwohl Kersten die Viertel sogar mittanzt. Der Mittelteil besteht aus einem großen schräg-finsteren Break, und der Schluß mutet mit seiner Pfeife fast barbarisch an. "While you are away" an dritter Satzposition entpuppt sich dann als große russische Melancholie, und für deren Umsetzung ist das Bajan natürlich erstklassig geeignet. Immer wieder erklingen herzerweichende Duettpassagen des Akkordeons mit den Stimmführern der Streichinstrumente, einige Steigerungen fallen wieder in sich zusammen, ohne Folgen zu hinterlassen, und am Ende kommt Preu in einer Art Popsong an, der einige Besucher mit seiner Schlußwendung schon zum Applaudieren veranlaßt. Im Gegensatz zum früheren Solokonzert hat Preu aber vier Sätze in der Aufteilungsmanier einer klassischen Sinfonie geschrieben, also kommt noch einer. Der heißt "Mysterious Paths" und hebt mit groovigem Midtempo an, das aber gern durch Beschleunigungen unterbrochen wird. Freilich bleibt auch hier die Frage "Wer macht den Rhythmus im Jazzsinne?" unbeantwortet. Dafür gibt es viel gestopftes Blech und eine immer stärkere psychedelische Neigung - der mysteriöse Pfad verliert sich also im Nebel, und am Ende fällt der Wanderer akustisch von einer Steilwand und bricht sich alle Knochen. Der Komponist, der in der Reihe vor dem Rezensenten sitzt, ist begeistert, das Publikum in der ordentlich ge-, aber keineswegs überfüllten Klosterkirche ist es auch und bekommt zur Belohnung noch eine Zugabe, eine etwas wirre Fassung von Nikolai Rimski-Korsakows "Hummelflug" mit dem Bajan als Leitinstrument. Das rundet den Unterhaltungswert noch ab und kann als gute Basis für den Gegenbesuch der Sachsen in Petrosawodsk (das ist die Hauptstadt des russischen Teils von Karelien, also östlich von Finnland gelegen) gesehen werden.



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